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Express Online: Thema der Woche | 25. August 2011

"Die Welt ist gar nicht so schlecht"

Drei junge Handwerkerinnen auf der Walz

Sie sind für drei Jahre und einen Tag "fremdgeschrieben", gehen auf die Wanderschaft, um ihr Handwerk zu vervollkommnen und um andere Menschen und fremde Kulturen kennenzulernen. In dieser Zeit dürfen sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Nana, fremde freireisende Tischlerin, Steffi, fremde Zimmerin im Freien Begegnungsschacht (FBS) und Anni, fremde Holzbildhauerin im FBS.

Express: Was bedeutet eigentlich "fremdgeschrieben"?
Steffi: Dass wir weg von zu Haus, fern der Heimat, in der Fremde sind. Wir haben eine Bannmeile von 50 km rund um unseren Heimatort und dürfen diese während unserer Wanderjahre nicht betreten und sie nicht durchqueren.

Express: Was ist das Ziel eurer Wanderschaft?
Nana: Auf der Wanderschaft bilden wir uns quasi in unserem Handwerk weiter, erlernen neue Handwerkstechniken und bekommen die Tricks und Tipps der verschiedenen Meister mit. Schließlich arbeitet man überall auf der Welt ein wenig anders. Wir lernen andere Menschen und ihre Kulturen kennen und im Umgang mit den Menschen auch uns selbst und unsere Grenzen.
Letztendlich eignen wir uns auch die wesentlichen Schlüsselkompetenzen, wie soziale Kompetenz, Team- und Kritikfähigkeit, Flexibilität und Mobilitätsbereitschaft an, auf die heute wieder vermehrt Wert gelegt wird. Nicht zuletzt tragen wir unseren Teil zur Völkerverständigung bei.
Steffi: Das Reisen ist das Ziel, denn wir arbeiten um zu reisen und wir reisen, um zu arbeiten. Im Wesentlichen geht es um Freiheit, Toleranz und Vertrauen. Freiheit, weil wir alles hinter uns lassen, was uns bindet. Toleranz gegenüber der Fremde und ihrem Anderssein, weil wir ansonsten in ihr auch gar nicht bestehen könnten, und Vertrauen, weil ohne Vertrauen überhaupt keine Basis für die Begegnungen mit anderen Menschen möglich wäre.

Express: Was sind die Voraussetzungen für eure Wanderschaft?
Steffi: Wir müssen eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem alten traditionellen Handwerksberuf haben, sprich im Besitz eines Gesellenbriefes sein. Wir müssen ledig sein, unter dreißig Jahre alt und dürfen keine Kinder, keine Schulden und keine Vorstrafen haben.
Nana: Die Wanderschaft ist schließlich keine Flucht vor der Verantwortung, noch nicht einmal ein Suchen nach irgendetwas, sondern eher ein Finden seiner selbst.

Express: Welche Länder habt ihr bereits bereist?
Steffi: Im ersten Jahr reisen wir im deutschsprachigen Raum, um auf der Straße anzukommen, und um in unsere Kluft, die traditionelle Kleidung reisender Handwerksgesellen, hinein zu wachsen. Im zweiten Jahr reisen wir europaweit und im dritten Jahr weltweit.
Ich war in Dänemark, Italien, Kroatien, Slowenien, Rumänien, Kuba und Sri Lanka unterwegs. In Sri Lanka habe ich z.B. für ein Tsunami-Hilfsprojekt gearbeitet.
Auf Kuba hatten wir sogar einen Auftrag von der Deutschen Botschaft, der dann aber platzte, weil die Materialzuteilung nicht rechtzeitig kam und wir weiter mussten.
Zum Abschluss meiner Wanderjahre fliege ich jetzt noch nach Kanada.
Nana: Ich habe Frankreich, Spanien und Portugal bereist, war ebenfalls in Slowenien und habe zusammen mit anderen Wandergesellen in Frankreich, Kroatien und Rumänien gearbeitet.
In Rumänien/Sibiu gibt es in diesem Jahr wie schon in den vorangegangenen eine große Gesellenbaustelle, auf der dann wieder viele Wandergesellen zusammen kommen, sich austauschen, gemeinsam arbeiten und feiern, nicht nur voneinander, sondern auch von rumänischen Handwerkern lernen und nicht zuletzt ihr Wissen an rumänische Berufsschüler weitergeben.

Express: Habt ihr schlechte Erfahrungen gemacht?
Steffi: Bisher nicht. Die Welt ist gar nicht so schlecht, wie viele denken und dazu sehr, sehr gastfreundlich.
Nana: Die wenigen negativen Erfahrungen verblassen neben all den positiven. Und wenn ein Mann auch mal die Frau in der Kluft ungebetenerweise begehrenswert findet, gibt es ein klares Nein. Und ein Nein ist ein Nein! Du darfst halt nicht auf den Mund gefallen sein. Zusätzlich ist unsere Kleidung eigentlich eine Art Schutzpanzer.

Express: Eure Kleidung ist speziell ...
Steffi: Unsere Kleidung ist unser Haus, der Hut das Dach auf dem Kopf, der Schlafsack das Bett, unser Gepäck sozusagen die kleinste Drei-Zimmerwohnung der Welt.
Nana: Und so praktisch! Im Sommer kommen wir nicht zum frieren und im Winter nicht zum schwitzen.

Express: Habt ihr ein Bankkonto? Wie seid Ihr krankenversichert, und wie kommuniziert ihr in den fremden Sprachen?
Steffi: Ein Bankkonto haben wir in der Regel nicht, krankenversichert sind wir, wenn wir arbeiten über den Handwerksbetrieb und wenn wir reisen zum Wanderstudententarif. Und fürs Ausland gibt es eine zusätzliche Auslandskrankenversicherung.
Wenn es notwendig wird, besucht man in der Fremde einen Sprachkurs. Das Schöne am Handwerk ist jedoch, dass man viel zeigen und mit den Händen kommunizieren kann.

Express: Und wenn doch mal passiert?
Nana: Dann gibt es die Möglichkeit, sich in einer Gesellenherberge oder bei guten Freunden auszukurieren. Das Leben auf der Straße härtet jedoch ab. Wir sind ja sehr viel an der frischen Luft und viel zu Fuß unterwegs. Und eine Reise ist gut für die Seele. Ja, und wenn die Seele gesund ist, ist auch der Körper gesund.

Express: Wie werdet ihr für eure Arbeit entlohnt?
Nana: Grundsätzlich arbeiten wir zum ortsüblichen Gesellentarif. Wir wollen weder die ortsansässigen Handwerker verdrängen noch uns unsere eigene Zukunft verbauen. Einmal im Jahr organisieren wir eine große Gesellenbaustelle und unterstützen dabei gemeinnützige Projekte, bauen z.B. freie Schulen aus oder Pfadfinderlager auf. Dort arbeiten wir dann nur für Kost und Logie und unsere Krankenversicherungsbeiträge.
Da wir auf unserer Wanderschaft tagtäglich von den verschiedensten Menschen unterstützt werden, wollen wir der Bevölkerung auf diesem Wege auch mal etwas zurückgeben.
Auf der Walz muss man auf andere Menschen zugehen und sie um Hilfe bitten, was nicht jeden Tag einfach ist. Aber ich mache fast täglich die Erfahrung, dass es nicht nur mir weiterhilft, sondern auch den Menschen Freude macht, Hilfe zu geben.

Express: Wann wisst ihr, dass Ihr weiterreisen müsst?
Steffi: Wir bleiben nicht länger als drei Monate an einem Ort. Wenn der Hund des Nachbarn nicht mehr bellt, der Postbote Dich mit Namen kennt und die Bäckersfrau weiß, was Du willst, ohne dass Du etwas gesagt hast, dann ist es Zeit, wieder aufzubrechen.
Nana: Meist jucken einem aber nach sechs Wochen schon wieder die Füße, und das Reisefieber packt einen.

Interview: Thomas Gebauer

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