Donnerstag, 25. April 2024
Thema der Woche | 18. April 2013

Clean mit Kühen und Käse

Auf dem Hofgut Fleckenbühl wird die Sucht mit Arbeit, Bioprodukten und strengen Regeln bekämpft – Foto: Wegst

Schönstadt. Im Käsekeller des Hofguts Fleckenbühl in Schönstadt bei Marburg riecht es streng. 500 Laibe reifen auf den Holzgestellen. Reynaldo Lopez mag den Geruch. Auch die feuchte Kühle des Jahrhunderte alten Gewölbekellers macht ihm nichts aus. Geschickt greift er sich den Bockshornkäse, um ihn abzubürsten und mit einem Kräutersud einzureiben. Jeden Tag wendet, schmiert und bürstet der ausgebildete Hofkäser Hunderte von Käselaibe auf diese Weise: "Die Kunst des Kellermeisters besteht darin, zu gucken, was der Käse braucht", sagt Reynaldo Lopez. Regelmäßig erringen die Käsespezialitäten des Suchthilfehofs Preise.

Jetzt wird auch Reynaldo Lopez bekannt. Der 32-Jährige gehört zu den 17 ehemals Süchtigen, die sich an einer hessenweiten Plakataktion der Fleckenbühler beteiligen. Unter dem Titel "Das kannst du auch" wirbt er mit seinem Konterfei in Drogenberatungen, Gesundheitsämtern und im Internet für cleanes Leben: "Damit möchte ich anderen Mut machen, mit den Drogen aufzuhören", sagt Lopez.

Seit mehr als vier Jahren ist der aus Ostdeutschland und Lateinamerika stammende Reynaldo clean. In die Sucht rutschte er während seiner Ausbildung zum Galvaniseur: "Erst habe ich mich mit Alkohol benebelt. Am Ende war es nur noch Rum." Warum er zur Flasche griff, kann er schwer erklären: "Ich habe mich nirgendwo wirklich zuhause gefühlt", sagt er. Nach vielen Entgiftungen und vergeblichen Therapien landete er im September 2008 in Fleckenbühl. Sein ebenfalls alkoholkranker Zwillingsbruder kam nicht mit. Er starb im vergangenen Jahr an den Folgen der Sucht: "Der Alkohol hat ihn aufgefressen", sagt Reynaldo.

Auf dem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Demeterhof Fleckenbühl arbeiten fast ausschließlich ehemals Süchtige. "Niemand kann einem Drogensüchtigen besser erklären, wie man drogenfrei leben kann, als ein Drogensüchtiger, der es geschafft hat", sagt Uwe Weimar, der Betriebsleiter für Feldwirtschaft. Der 47-Jährige, der seit 13 Jahren auf dem Hofgut lebt, kam nach einer Cannabis-Psychose nach Schönstadt. Etwa ein Drittel der 120 Bewohner sind Alkoholiker. Zwei Drittel nahmen Heroin, Kokain, Pillen oder galten als Mehrfachabhängige.

Reynaldo Lopez in der Käserei – Foto: Wegst

Im Gegensatz zu den meisten anderen Suchthilfeeinrichtungen wird jeder Hilfesuchende in Fleckenbühl sofort aufgenommen. Es gibt keine Wartelisten. Es werden auch keine Kostenübernahmebescheinigungen verlangt. Drogen, Alkohol, Medikamente, Gewalt und Tabak sind jedoch tabu. Selbst Zucker gibt es nur für Besucher. Wer mit einer Zigarette auf dem Hof erwischt wird, muss sofort gehen. Zudem werden Neuankömmlinge sechs Monate lang völlig von der Außenwelt – einschließlich der Eltern – abgeschirmt. Ein Fernseher auf dem Zimmer ist erst nach fünf Jahren möglich. "Das muss man mögen", sagt Weimar: "Aber für viele sind wir die letzte Chance vor dem Tod."

Vor allem in der Anfangszeit werden die Süchtigen mit Arbeit, Clubs, Sport, Spaziergängen und therapeutischen Gesprächsgruppen von morgens bis abends beschäftigt. "Nur die Sonntage sind schwierig", sagt Uwe Weimar. Er hält die Arbeit in der Landwirtschaft für besonders geeignet, um von den Drogen wegzukommen. "Das erdet", sagt er. Auf den Äckern wachsen Weizen, Roggen, Dinkel, Gerste und Hafer. Daraus werden Brot und Brötchen, mit denen das Klinikum Höchst und Bioläden aus ganz Hessen beliefert werden.

770 Milchkühe, 50 Jungrinder und 30 Milchziegen gibt es auf dem Demonstrationsbetrieb für ökologischen Landbau. "Wenn jemand Verantwortung für ein Tier übernimmt, lernt er auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen", sagt Weimar. Die Ziegen haben gerade gelammt. 49 kleine Zicklein purzeln unter den Wärmelampen im Stall.

Auf den Käse – 30 000 Kilo pro Jahr und mehr als 20 Sorten – ist die Hofgemeinschaft stolz. Er geht an 75 Lebensmittelmärkte, Geschäfte und Feinschmeckerrestaurants aus ganz Hessen. Dabei entwickeln die Käser immer neue Ideen: So gibt es zum Valentinstag, vor Ostern oder an Weihnachten Käse in Herz-, Osterei- oder Sternform. Reynaldo Lopez schwärmt vor allem für den Bockshornkäse: "Der schmeckt wunderbar nussig", sagt er. Nächstes Jahr möchte er aus der Lebensgemeinschaft ausziehen. Auf den Käsereien der schwäbischen Alb will er sein Glück versuchen.

Suchthilfe in Fleckenbühl
Der Suchthilfehof Fleckenbühl in Schönstadt bei Marburg wurde vor knapp 40 Jahren zunächst unter dem Dach von Synanon gegründet. Seit 1995 ist die Lebensgemeinschaft "die Fleckenbühler" selbstständig. Seit 2003 gibt es ein kleineres Haus in Frankfurt-Niederrad, in dem 60 Männer und Frauen leben.
120 Menschen leben auf dem idyllisch gelegenen Hof bei Marburg, unter ihnen auch zehn Kinder.
Regelmäßig öffnet der Suchthilfehof Fleckenbühl seine Pforten für die Öffentlichkeit. Ein Tag der Offenen Tür ist für den 27. April in der Zeit von 15 bis 18 Uhr geplant.
gec

Gesa Coordes

Thema der Woche | 18. April 2013

Das letzte Jahr

Hörbuch-Produktion bietet einzigartige Einblicke in den Alltag eines jüdischen Gettos zur NS-Zeit – Foto: Staatsarchiv Lodz

Es galt als "Krepierwinkel Europas". Das Getto Lodz/Litzmannstadt war eines der größten im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten.Zwischen 1939 und 1944 pferchten die Nationalsozialisten hier nahezu 200.000 Juden zusammen. Innerhalb der jüdischen Getto-Verwaltung wurde im November 1940 ein Archiv gebildet, in dem vom 12. Januar 1941 bis zum 30. Juli 1944 mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vorwiegend Journalisten und Schriftsteller, an einer Getto-Chronik schrieben, zunächst auf Polnisch, später auf Deutsch.

Tag für Tag fertigten sie einen Eintrag an, in dem sie über wichtige Ereignisse im Getto berichteten. Sie produzierten gewissermaßen eine Tageszeitung – allerdings eine, die keine Leser hatte. Die Chronik wurde zunächst ausschließlich für das Archiv geschrieben und sollte späteren Generationen zum Verständnis des Lebens und Sterbens im Getto dienen. Von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universitätwurde die Chronik 2007 in Buchform veröffentlicht (Wallstein Verlag).

"Das letzte Jahr" der Lodzer Getto-Chronik wurde vom Hessischen Rundfunk vertont und in einer einjährigen Sendereihe mit dem gleichnamigen Titel täglich ausgestrahlt. Aus diesen Lesungen entstand nun unter der Regie des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) an der Uni ein Hörbuch, das um Vorträge und eine Podiumsdiskussion der Eröffnungsveranstaltung des virtuellen Erinnerungsortes www.getto-chronik.de ergänzt wurde.

Im Mitschnitt der Veranstaltung liest Ulrich Matthes einzelne Tagesberichte aus der Chronik. Der Schauspieler, bekannt unter anderem aus "Der Untergang", leiht den Opfern seine Stimme und gibt in eindringlich-nüchternem Ton einen exemplarischen Einblick in die Entwicklungen des Gettos. Eingebettet ist diese Lesung in Vorträge hochkarätiger Wissenschaftler des ZMI und der Arbeitsstelle Holocaustliteratur sowie des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Dr. Markus Roth schildert die historische Entwicklung des "Krepierwinkels Europas", und Hon.-Prof. Dr. Sascha Feuchert setzt sich mit den Autoren der Getto-Chronik auseinander.

Das Hörbuch und die Internetpräsenz gehen aus einem vom Land Hessen geförderten und vom ZMI koordinierten LOEWE-Forschungsschwerpunkt "Kulturtechniken und ihre Medialisierung" in Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule Mittelhessen und dem Herder-Institut Marburg hervor. Das Teilprojekt "Multimedialisierung der 'Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt'" befasste sich mit der Erstellung einer interaktiv gestalteten Online-Version der Lodzer Getto-Chronik. Berichte von Augenzeugen aus dem Getto von Lodz zwischen 1943 und 1944 wurden zusammengefasst und mit Rahmeninformationen verknüpft. An diesem Teilprojekt waren das ZMI und die Arbeitsstelle Holocaustliteratur der JLU sowie das Herder-Institut und das Staatsarchiv Lodz beteiligt.

Info
Die MP3-DVD "Das letzte Jahr. Chronik des Gettos von Lodz/Litzmannstadt" ist ab sofort beim ZMI auf der Internetseite www.zmi.uni-giessen.de/home/gettochronik.php zum Selbstkostenpreis von 7,50 Euro zzgl. Versandkosten erhältlich. Weitere Infos: www.getto-chronik.de

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