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Thema der Woche | 17. Januar 2013

Verkehr und Visionen

Verkehrskonzept für die Nordstadt: Mitreden am 26. Januar beim Werkstattgespräch mit Live-Stream

Die Planungen zum Campus Firmanei, das Kongresszentrum der DVAG, die Renovierung des Bahnhofsgebäudes, die aufwändige Umgestaltung des Bahnhofsvorplatzes, das sind nur vier Punkte von vielen: Nirgendwo in Marburg wird so viel gebaut, umgestaltet oder neugeplant wie in der Nordstadt.

Die Nordstadt ist im Wandel und wird in absehbarer Zeit ihr Gesicht noch weiter deutlich verändern, wenn die Geisteswissenschaften der Philipps-Universität auf dem ehemaligen Klinik-Areal angesiedelt werden. Ein wesentlicher Punkt bei der Umgestaltung des Stadtteils ist die Entwicklung eines umfassenden Verkehrskonzepts, das die Bereiche von der Bahnhofstraße bis zur Biegenstraße sowie Am Pilgrimstein einbezieht: Die Bahnhofstraße ist schon jetzt Einkaufsmeile und Einfallstor in die Innenstadt. Zu dem bisherigen Verkehr im Nordviertel werden alltäglich tausende Studierende dazu kommen, wenn bis 2020 die zurzeit noch verstreut in ganz Marburg untergebrachten Geistes- und Sozialwissenschaften auf dem Campus Firmanei unweit der Elisabethkirche konzentriert werden.

Da gilt es für die Stadtplaner viele – und zum Teil einander widerstrebende – Interessen unter einen Hut zu bekommen: Anwohner, die weniger Verkehrsbelastung wünschen, Einzelhändler die sich für mehr Parkflächen aussprechen, Unimitarbeiter und Studierende die per pedes, mit dem Fahrrad oder auch mit dem Auto an ihren Arbeitsplatz oder Studienort gelangen wollen.

Kurz: Bei der Entwicklung eines Nordstadt-Verkehrskonzepts habe viele Marburger Grund mitzureden – und das können sie auch. Die Stadt hat einen aufwändigen Bürgerbeteiligungsprozess mit unter anderem einem "Werkstattgespräch" und einer Online-Diskussion aufgelegt: Bei dem Werkstattgespräch am 26. Januar im Stadtverordnetensitzungssaal werden an drei Thementischen in Gruppen Fragen zur Stadtbildgestaltung, der Aufenthaltsqualität und den Verkehrsbedürfnissen der Campus-Entwicklung diskutiert. Gehört doch zu den Zielen des neuen Verkehrskonzepts die Aufwertung des Bereichs an der Elisabethkirche sowie die Gestaltung von Straßenräumen, die den Verkehrsbedürfnissen der Campus-Entwicklung gerecht werden.

Zu Beginn des Werkstattgesprächs gibt's unter anderem einen Vortrag zu den bislang erarbeiteten Verkehrsvarianten, anschließend geht es an die Thementische. Bis zur Mittagspause werden in den drei Gruppen grundlegende Aspekte, Rahmenbedingungen herausgearbeitet. Danach können die Gruppen Lösungsmöglichkeiten erarbeiten. Jede Gruppe wird von einem Moderator begleitet. Nachmittags werden dann die Ergebnisse der einzelnen Gruppen von Vertretern der Stadt gesammelt vorgetragen.

Der Clou: Wer Interesse hat, sich bei der Diskussion einzubringen, muss nicht zwingend vor Ort sein. Noch bis zum Vormittag können Fragen per Mail gestellt werden. Außerdem gibt's den ersten städtischen Live-Stream bei einer Marburger Bürgerbeteiligungs-Veranstaltung (übrigens in Abstimmung mit dem hessischen Datenschutzbeauftragten). Sowohl der Einstieg in das Thema wird per Webcam übertragen als auch die Präsentation der in den Gruppen erarbeiteten Lösungsansätze am Nachmittag.

Weiter behandelt wird das Thema Verkehrsentwicklung am 12. März mit einem Online-Diskussion mit Oberbürgermeister Egon Vaupel, Bürgermeister Franz Kahle sowie internen und externen Experten. Außerdem bereitet die Stadt eine weitere Bürgerinformationsveranstaltung am 19. März vor.

Werkstattgespräch am 26. Januar im Stadtverordnetensitzungssaal
10.00 Uhr: Begrüßung
10.15 Uhr: Einführung in das Thema, Vorstellung des Verkehrskonzepts
11.00 Uhr: 1. Runde an den drei Thementischen
12.30 Uhr: Mittagspause
13.30 Uhr: 2. Runde an den drei Thementischen
15.30 Uhr: Kaffeepause
16.00–17.00 Uhr: Vorstellung der Ergebnisse und Diskussion
Wer Fragen zum Thema einbringen will, kann das noch bis zum 26. Januar, 13 Uhr, mit einer Mail an lebendige.nordstadt[at]marburg-stadt.de tun. Unter selbiger Adresse können sich interessierte Marburger auch bereits im Vorfeld für das Werkstattgespräch anmelden.

Georg Kronenberg

 
Thema der Woche | 17. Januar 2013

Wo Süchtige Kinder bekommen

Übergangseinrichtung für Drogenabhängige

Er ist clean, seit er Vater ist. Drei Monate vor der Geburt seiner Tochter Nina (alle Namen geändert) schaffte er den Entzug. Seitdem wohnt Peter Winkler mit seiner Freundin in der Übergangseinrichtung für Drogenabhängige der Gießener Vitos-Klinik.

Vorsichtig nimmt der 42-Jährige sein Baby auf die großflächig tätowierten Arme. Gerade hat er die kleine Tochter gewickelt, die vergnügt mit den Beinen strampelt. Jetzt legt er sie in den Kinderwagen. Jeden Tag fährt er mit der"kleinen Motte" quer über das weitläufige Parkgelände der Vitos-Klinik: "Mit Kindern muss man Geduld haben", sagt er.

Auf dem Pflaster vor Station 5 fährt die zweijährige Yvonne mit dem Bobbycar auf dem Gehweg. "Auto", murmelt das Mädchen vor sich hin. Unterdessen sitzen die Patienten auf einer Bank und rauchen. Vor wenigen Tagen haben sie den Geburtstag von Yvonne gefeiert. Im Gemeinschaftsraum hängen noch ein paar Luftballons von der Decke.

Nina und Yvonne sind die Lieblinge der Einrichtung.Gießen ist die einzige Übergangseinrichtung in Hessen, die auch schwangere Süchtige sowie Drogenabhängige mit Kindern bis zum Schulalter aufnimmt. Deswegen kommen Klienten aus ganz Deutschland. Die Schwangeren erhalten zum Teil Methadon. Das bedeutet für das Kind, dass es direkt nach der Geburt einen Monat lang zum Entgiften im Krankenhaus bleiben muss. Bei der Mutter wird das Methadon nach der Entbindung nach und nach abgesetzt.

In der Regel sind immer zwei Kinder auf der vor zehn Jahren gegründeten Station mit ihren zehn Betten. Es gibt Zusammenarbeit mit einer Hebamme, der Uni-Klinik und der Frühförderstelle. Erzieherinnen arbeiten stundenweise auf der Station.

Peter Winkler hat eine typische Drogenkarriere hinter sich. Der 42-Jährige ist in einem Heim aufgewachsen, aus dem er mit 15 Jahren abhaute. Er lebte auf der Straße, probierte mit 16 Jahren zum ersten Mal unwissentlich Heroin und wurde innerhalb von wenigen Wochen abhängig. Er nahm aber auch Tabletten, LSD und Kokain. Um seinen Drogenkonsum zu finanzieren, wurde er zum Dealer. Nach seinem ersten Gefängnisaufenthalt "wurde alles noch schlimmer", erzählt er. Er stieg noch weiter ins Drogengeschäft ein.

Seitdem hat er 14 Jahre und sechs Monate, mehr als ein Drittel seines Lebens, in Haft verbracht. "Dabei ist er ein ganz feiner, differenzierter Mann", sagt der therapeutische Leiter der Übergangseinrichtung, Rainer Römer: "Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er so ein harter Bursche war."

Vergeblich versuchte Winkler in mehreren Anläufen, von den Drogen loszukommen. Doch dann wurde die Freundin schwanger. "Und ich hatte die Schnauze voll vom Knast und dem Ärger mit der Polizei", erzählt er. Seinen Entzug schaffte er zu Hause. "Ich hoffe, dass das Thema für mich jetzt durch ist", sagt Winkler.

Ein Kind zu haben, sei ein "schönes Gefühl", sagt der 42-Jährige.Nina nimmt gut zu, wächst und weint nur wenig. Neuerdings schläft sie sogar ab und zu durch. "Die Hebamme war sehr zufrieden", erzählt er. Der therapeutische Leiter Rainer Römer ist es auch: "Ich bin immer wieder entzückt, wie dieser tätowierte Bär mit seinem Kind umgeht", sagt der Sozialarbeiter.

Während Winkler in der Gärtnerei arbeitet, kümmert sich eine Erzieherin um das Baby. Der 42-Jährige gehört zu den Klienten, die gern arbeiten: Er spaltet Holz,häckselt es, kehrt die Wege, recht Laub und pflanzt Blumen. "Das macht den Kopf frei", sagt er. Gesprächtherapie in der Gruppe liegt ihm dagegen nicht so sehr. Meistens schweigt er in der Runde. Körpererfahrung – Boule, Tischtennis, Kicker, Billard und Joggen – ist ihm da schon lieber. Und er mag die Kochgruppe. Bauerntopf, Chili con Carne, Spagetti und Schweinsbraten hat er der Station schon serviert.

In den nächsten Monaten möchte er gemeinsam mit Kind und Freundin in eine Therapieeinrichtung wechseln. Dann wünscht er sich vor allem Arbeit, um die kleine Familie zu ernähren.

Zukunftsperspektiven zu entwickeln, ist eines der Ziele der Übergangseinrichtung für Drogenabhängige. So träumt Samuel Becker davon, in sein früheres Leben zurückzukehren. Er gehört zu den wenigen Klienten, die eine gute Schulbildung und einen Beruf haben. Der 38-Jährige ist nach eigener Einschätzung eher behütet aufgewachsen, hat nach dem Abitur studiert und 15 Jahre lang als Rettungsassistent gearbeitet. "Ich weiß nicht so genau, warum ich drauf gekommen bin", sagt er. Durch private Probleme sei er depressiv geworden. Er nahm Heroin, Kokain, Tranquilizer und Amphetamine. Die wichtigste Droge war jedoch der Alkohol. Damit habe er versucht, Kummer wegzutrinken. Zunächst trank er nur abends. Irgendwann zitterte er morgens, wenn er noch nichts getrunken hatte.

Die Entgiftung folgte, nachdem er mit 3,4 Promille in die Klinik eingeliefert wurde. Da war er schon so stark an den Alkohol gewöhnt, dass er sogar noch geradeaus laufen konnte. Seit wenigen Wochen wohnt er nun auf der Übergangsstation. Durch die Arbeit in der Gärtnerei hat sein Gesicht eine gesunde Farbe bekommen. "Ich sehe wieder, wie die Natur wächst und stehe mit einer gewissen Euphorie auf", sagt er erstaunt. Becker möchte in eine betreute Wohngemeinschaft wechseln und hofft darauf, wieder in seinem alten Job unterzukommen.

Es gibt immer wieder Leute, bei denen man nicht auf den ersten Blick erkennen kann, woran es eigentlich liegt", sagt der therapeutische Leiter. Aber die meisten Klienten hätten Gewalt erfahren. Viele der Frauen seien missbraucht worden. "Drogenabhängige sind sehr verletzlich", sagt Römer: "Sie kippen schnell um."

Gesa Coordes

Interview

"Manchmal ist es schwer zu ertragen"

Interview mit dem therapeutischen Leiter der Vitos-Übergangseinrichtung für Drogenabhängige, Rainer Römer

Express: Was sind das für Menschen, die drogensüchtig werden?
Rainer Römer: Sie kommen aus allen Schichten. Sogar Professorensöhne haben wir schon behandelt. Warum sie in Drogen abrutschen, ist unterschiedlich. Viele haben Bindungsstörungen, die aus den ersten beiden Lebensjahren rühren. Die Droge gibt ihnen etwas Warmes, Geborgenes. Dann spüren sie die Probleme nicht so.
Express: Haben Sie heute andere Suchtkranke als vor zehn Jahren?
Römer: Jein. Nach wie vor ist Heroin die illegale Droge Nummer eins. Aber heute haben viele eine Polytoxikomanie. Das heißt, dass sie alles Mögliche an Drogen nehmen: Heroin, Kokain, synthetische Drogen, Tranquilizer, aber auch Alkohol und natürlich Cannabis. Neue Drogen wie "Legal Highs" kommen dazu. Die sind kaum nachzuweisen und leicht zu beschaffen. Das macht es oftschwierig zu überprüfen, ob die Klienten wirklich drogenfrei sind. Selten geworden sind HIV-Infizierte.
Express: Haben Sie denn viele Rückfälle?
Römer: Relativ gesehen wenig. Jeder Fünfte bis Sechste muss aus disziplinarischen Gründen entlassen werden. Dazu gehören diejenigen, die rückfällig werden. Aber auch Gewalt geht nicht. Kürzlich haben wir zwei Leute entlassen, weil sie sich so geschlagen haben, dass ein Krankenwagen kommen musste. Das ist aber die Ausnahme.
Express: Sie leiten eine Übergangseinrichtung für Drogenabhängige. Was muss man sich darunter vorstellen?
Römer: Eine Übergangseinrichtung ist keine klassische Therapieeinrichtung. Unsere Klienten kommen im Anschluss an eine Entgiftung und bleiben meist drei Monate. Nur die Mütter mit Kindern sind durchschnittlich ein halbes Jahr da. Hier können sich die Leute in einer drogenfreien Atmosphäre stabilisieren und eine Zukunftsperspektive entwickeln. Viele gehen anschließend in klassische Reha-Einrichtungen. Manche wechseln in betreute Wohngemeinschaften, gehen in ihr häusliches Umfeld oder in Lebensgemeinschaften, in denen sie lebenslang bleiben können.
Express: Wie sieht ihr Alltag in der Klinik aus?
Römer: Die Drogenabhängigen sollen einen vernünftigen Tag-Nacht-Rhythmus kriegen. Das heißt, dass sie morgens aufstehen müssen, frühstücken und die Station in Ordnung bringen müssen. Dann haben wir eine Morgenrunde. Anschließend gehen die Klienten zweieinhalb Stunden arbeiten – mehr ist meist nicht drin. Die meisten sind in der Gärtnerei. Sie können aber auch in Arbeitsbereichen wie der Schreinerei, Schlosserei, Bücherei, in der Küche oder der Wäscherei arbeiten. Nach dem Mittagessen gibt es viele Therapieangebote und Gesprächsgruppen.
Express: Sie bieten sogar Tai Chi an.
Römer: Ja, aber das wird nicht so gern genutzt. Unsere Klienten würden am liebsten nur in Muckibuden ihre Muskeln aufbauen. Aber wir wollen nicht, dass sie Spannung aufbauen, sondern dass sie Spannung abbauen. Wir möchten auch gern, dass sie Sport in einer Gruppe treiben, damit sie Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Und diese Maschinensportarten sind ja eher – ich nenne es mal so salopp – "Autistensportarten". Da trainiert jeder für sich allein. Und das ist genau kontraproduktiv für unsere Klienten. Deswegen drängen wir sie zu Mannschaftssportarten oder zum Laufen in der Gruppe.
Express: Als einzige Übergangseinrichtung in Hessen nehmen sie auch Schwangere sowie Eltern mit Kindern auf. Was muss man dabei beachten?
Römer: Die Kinder sind hier in guten Händen. Wir kooperieren mit Jugendämtern, Kinderärzten und der Frühförderung. Das klappt prima. Manchmal müssen wir aushalten, dass wie Schwangere haben, die am Tag 50 Zigaretten rauchen. Das ist für uns als Mitarbeiter mit unserer Mittelschichtsbeurteilung schwierig. Das kann man manchmal kaum mit ansehen. Es gibt auch schwer zu ertragende Mutter-Kind-Beziehungen. Manchmal haben wir Frauen, die ihr Kind fast nie in den Arm nehmen oder die noch nie mit ihrem dreijährigen Kind gespielt haben. Die Grundversorgung läuft dann mit unserer Hilfe irgendwie, aber viel mehr auch nicht. Auf der anderen Seite gibt es Eltern, die das richtig prima machen. Auch die Atmosphäre mit Kindern ist anders. Die Klienten haben doch gelernt, dass man sich anders verhält, wenn Kinder da sind. Wir haben hier weniger Szenecharakter, die Türen fliegen nicht so, es läuft nicht ständig laute Musik. Das ist gut.
Express: Mit welchen Langzeitfolgen kämpfen Kinder von Drogensüchtigen?
Römer: Kinder, die bei Süchtigen aufwachsen, haben ein dreimal so hohes Risiko, selbst süchtig zu werden. Es passiert auch oft, dass die Kinder unseren Klienten später vom Jugendamt entzogen werden. Wenn die Eltern rückfällig werden, kommen die Kinder in ein Heim oder eine fremde Familie. Das ist auch okay. Kein Kind kann eine Mutter gebrauchen, die drauf ist.

Interview: Gesa Coordes

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