"Die Kinder sind betrogen worden"
Geschäftsmann soll in Marburger Vereinen systematisch Geld veruntreut haben Foto: Meyhome/Pixelio
Ein angesehener Marburger Geschäftsmann soll in mehreren Vereinen der Universitätsstadt hohe Summen veruntreut haben. Besonders getroffen wurde der Förderverein des Landschulheims Steinmühle, in dem der Beschuldigte Kassierer war. Nach Informationen von Schulleiter Bernd Holly soll der Geschäftsmann mindestens 85.000 Euro in den vergangenen zehn Jahren beiseite geschafft haben. "Wir sind geschockt", sagt Holly: "Die Kinder und die Menschen, die gespendet haben, sind betrogen worden."
Die Marburger Staatsanwaltschaft hat Privat- und Geschäftsräume des Kassierers durchsucht, Computer und Akten beschlagnahmt. "Wir ermitteln wegen des Verdachts der Untreue", sagt Staatsanwalt Holger Willanzheimer. Es gebe ein Schuldeingeständnis. In Gang gebracht hatte das Verfahren der Verein der Wirtschaftsjunioren, bei dem der Geschäftsmann ebenfalls Kassierer war. Dort waren ungewöhnliche Kontobewegungen aufgefallen, die zu einer internen Überprüfung führten. So hatte der Förderverein der Steinmühle einen Betrag an den Wirtschaftsverband überwiesen, obwohl die Vereine eigentlich nichts miteinander zu tun haben. "Wahrscheinlich wurde damit ein Loch gestopft", vermutet Willanzheimer. Nach der ersten Einschätzung der Staatsanwaltschaft ist bei den Wirtschaftsjunioren ein Schaden von 10.000 bis 15.000 Euro entstanden.
Im Landschulheim Steinmühle war der Kassierer aufgeflogen, als das private Marburger Gymnasium und Internat einen neuen Sportplatz baute. Dazu wollte der Förderverein einen Zuschuss von 35.000 Euro geben. Doch das Geld, das bereits im März vergangenen Jahres hätte fließen müssen, wurde nach Angaben des Schulleiters bis November nicht überwiesen. Der Kassierer behauptete, er habe die Summe längerfristig auf einem Sparbuch angelegt und könne nicht darüber verfügen. Das machte Holly und seinen Stellvertreter so misstrauisch, dass sie der Entlastung des Vorstands im November widersprachen. Sie selbst gehören dem Verein, von dem sie sich distanzieren, und der nicht Träger der Schule ist, nur als einfache Mitglieder an. In der Folge wurde zwar der Betrag von 35.000 Euro gezahlt. Die Vorsitzende des Fördervereins musste der Schulleitung jedoch berichten, dass es größere Unregelmäßigkeiten gibt.
Die Kassenprüfer hatten sich offenbar über Jahre von frisierten Kontoauszügen täuschen lassen. So habe der Kassierer Kontoauszüge der Postbank vorgelegt, die gefälscht waren - dort hat der Verein gar Konto: "Das sah schon relativ professionell aus", sagt Schulleiter Holly: "Aber man muss schon kritisch sagen, dass die Kontrolle nicht vernünftig stattfand." Von den Spendengeldern soll der Kassierer in den vergangenen zehn Jahren immer wieder kleinere Beträge in bar abgehoben oder auf andere Konten überwiesen haben. Insgesamt soll der Marburger so mindestens 85.000 Euro veruntreut haben.
Als Kassierer fungierte der 42 Jahre alte Geschäftsmann auch im Stadtteilverein "Alles im Biegen" und im Reit- und Sportverein des Landschulheims Steinmühle. Dort gibt es inzwischen ebenfalls interne Prüfungen.
Unterdessen sorgt sich das Landschulheim Steinmühle um den Ruf des Gymnasiums mit seinen 580 Schülern: "Emotional ist das der totale Gau", sagt Holly. Kinder und Eltern hätten etwa bei Schulfesten durch Waffelnbacken Gelder für den Förderverein gesammelt. Normalerweise würden damit Musikinstrumente gekauft und arme Kinder bei Klassenfahrten unterstützt.
Aufbruchstimmung
Neue Kulturamtsleiterin: Simone Maiwald über den Blick auf's Ganze
Im Mai wird Simone Maiwald aus Rottweil am Neckar Nachfolgerin des langjährigen Gießener Kulturamtsleiters Friedhelm Häring. Im Express-Interview berichtet sie von ihren ersten Eindrücken in der Universitätsstadt, regionaler Vernetzung in Zeiten knapper Kassen und begeisternder Büchner-Lektüre.
Express: Was hat Sie an der Stelle in Gießen besonders gereizt? Das klamme Stadtsäckel, das wenig Spielraum für Ihr Amt, für die Kulturförderung lässt wahrscheinlich nicht ...
Maiwald: Mein erster Besuch in Gießen war verbunden mit einer Führung durch die Gießener Architektur der 50er Jahre. So habe ich Gießen als eine Stadt kennengelernt, die sich trotz der zerstörten historischen Architektur eine gute und grüne Ausstrahlung bewahrt hat. Allein Lahn und Wieseck sowie innerstädtische Grünflächen schaffen für mich als leidenschaftliche Radfahrerin und als Joggerin wenn es meine Zeit zulässt schöne Gelegenheiten zum Wohlfühlen.
Gießen besitzt als Unistadt viele spannungsreiche Momente: In dem Verhältnis von ca. 80.000 BürgerInnen zu 25.000 StudentInnen liegen große Chancen, nämlich die intellektuelle Beweglichkeit einer Universitätsstadt und die Chance, junge Leute auch nachhaltig an die Stadt zu binden. Gießen ist eine junge und offene Kulturstadt, urbane Qualitäten, die ich sehr schätze.
In Ihrer Fragestellung klingt außerdem die schwierige Finanzsituation Gießens an. Wer in der kommunalen Kultur arbeitet, kennt diese Situation nur zu gut. In dieser Hinsicht hat die Kultur der Stadt Gießen einen großen Vorteil durch die persönliche Affinität der Oberbürgermeisterin, Frau Grabe-Bolz.
Express: Wie gut kennen Sie Gießen? Was schätzten Sie an der Kultur in der Unistadt besonders?
Maiwald: Da ich Gießen gewiss bisher eher oberflächlich kenne, möchte ich vollkommen offen auf die gesamte Stadt zugehen. Besonders am Anfang werde ichviele Fragen stellen, zuhören, sehen und wahrnehmen. Ich erhoffe bei diesem ersten Begegnungsprozess, dass mir in der Kultur viel Offenheit, Innovationsfreudigkeit, Mut und Provokation, aber auch Geschichtsbewusstsein begegnet, wie es eben einer alten Universitätsstadt gut ansteht.
Express: Was fehlt aus Ihrer Sicht in der Gießener Kulturszene? Was würden Sie gerne gestalten?
Maiwald: Es wäre vermessen, bereits jetzt Defizite in der Gießener Kulturszene auszumachen. Allerdings und nicht zuletzt auf Grund des universitären Hintergrundes nehme ich eine sehr interessante und breite Szene im Bereich Theater und Performance, Literatur und Musik wahr.
Als Kulturamtsleiterin werde ich zunächst den Blick auf das Ganze richten. So sehe ich es als eine meiner Aufgaben an, Gießen als vielfältigen, offenen Kulturstandort zu fördern und zu verankern.
Express: Das Gießener Stadttheater ist ein kulturelles Aushängeschild das freilich sehr viel Geld kostet und wenig für freie Initiativen übrig lässt. Wie kann man die freie Szene besser fördern?
Maiwald: Mit dieser Frage sprechen Sie einen grundsätzlichen Konflikt aller theatertragenden Städte an, den ich nicht auf einen finanziellen Aspekt reduzieren möchte auch wenn diese Frage leider für die freien Initiativen zumeist existentiell ist. Ich bin davon überzeugt, dass sich beide Seiten brauchen, um sich weiter zu entwickeln, um sich zu hinterfragen, aber eben auch um sich abzugrenzen. Ich sehe das Gießener Theater in einer zentralen Rolle für die städtische und regionale Kulturlandschaft, in der es wichtige künstlerische Impulse gibt und ein unverzichtbarer Partner der Bildungseinrichtungen ist. Da die finanziellen Spielräume gering sind, geht es zunächst um Koordination und die städtische wie regionale Vernetzung, um die Berücksichtigung der Initiativen bei städtischen Projekten in kulturellen, sozialen sowie Bildungszusammenhängen, um die Erschließung weiterer öffentlicher und nichtöffentlicher Töpfe, um die Unterstützung bei Marketing und Öffentlichkeitsarbeit und gar nicht zuletzt um die Sicherung der öffentlichen Anerkennung und eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen Stadt und freier Szene.
Express: Zu welchen kulturellen Veranstaltungen zieht es die Kulturamtsleiterin in ihrer Freizeit?
Maiwald: Ich habe beim Besuch von kulturellen Veranstaltungen in meiner Freizeit eher die Qual der Wahl. Grundsätzlich möchte ich in meinem privaten Leben weder auf Theater und Literatur noch auf Musik oder Kunst verzichten. Daher wird man mich in Gießen überall antreffen.
Express: Welche Künstler, welche Musiker, sind Ihnen wichtig? Welche Schriftsteller lesen Sie gerne?
Maiwald: Mit Vorlieben ist das so eine Sache, sie ändern sich im Laufe eines Lebens immer wieder. Ich möchte stets offen und neugierig sein, gegenüber europäischer genauso wie außereuropäischer, zeitgenössischer wie traditioneller Kunst und Kultur.
Express: Und was lesen Sie gerade?
Maiwald: Es ist sicher nicht verwunderlich, dass ich gerade die Werke und Briefe von Georg Büchner lese und von der immer noch aktuellen Sprengkraft dieser Texte begeistert bin. Es liegt bei mir aber nie nur ein Buch auf dem Tisch. So lese ich gerade außerdem von Jonathan Littell "Die Wohlgesinnten", ein Buch, das mich wirklich erschüttert und ich jedem nur empfehlen kann. Als Mitglied der Literaturkommission des Deutsch-Schweizer Autorentreffens (2013 in Rottweil), lese ich derzeit von Ursula Krechel "Landgericht" und von Maja Peter "Eine Andere".
Interview: Georg Kronenberg