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Thema der Woche | 29. Mai 2014

Eine bildungsorientierte Generation

Positive Effekte beim sozialen Lernen: Professor Ludwig Stecher – Foto: kro

Der Gießener Pädagogikprofessor Ludwig Stecher (52) ist Experte für das Lernen außerhalb der Schule, hat repräsentative Jugendstudien geleitet und ist an einem großen Forschungsprogramm zur Entwicklung von Ganztagsstudien beteiligt. Mit dem Express sprach er über den Wandel der Kindheit, die smarte Schüler-Generation und die Bedeutung von Bildung.

Express: Herr Prof. Stecher, Sie beschäftigen sich mit dem Lernen außerhalb der Schule. Wenn ich an meine Grundschulzeit zurückdenke, haben wir die Nachmittage weitgehend auf der Straße verbracht. Heute werden bereits Kleinkinder zu Englischkursen angemeldet. Kinderturnen ist selbstverständlich. Und auch Jugendliche lernen viel häufiger außerhalb des Schulunterrichts. Woran liegt das?

Stecher: In der Tat ist die Kindheit heute zunehmend durch Termine gekennzeichnet. Die Kinder und Jugendlichen gehen in die Musikschule, in die Jugendkunstschule, zum Fußball oder zum Voltigieren. Kindheit hat sich von der Straße weg in pädagogische Schonräume bewegt. Das hängt unter anderem mit der zunehmenden Bedeutung von Bildung zusammen. Eltern wollen ihren Kindern beim Übergang in die weiterführende Schule möglichst günstige Bedingungen schaffen. Nach unseren Studien wünschen sich inzwischen drei Viertel der Jugendlichen selbst das Abitur. In der Kindheit ist angekommen, was in der Gesellschaft zählt, nämlich Bildung. Die logische Konsequenz daraus ist: Pädagogische Angebote werden auch schon im sehr frühen Alter genutzt.

Express: Ist das ein deutsches Phänomen?

Stecher: Nein, wir beobachten das in vielen Industriestaaten. In den USA gibt es die After-School-Programme, in Schweden die Freizeitzentren. Wir bezeichnen das als "Extended Education". Bei der Erforschung dieses Bereichs des Bildungssystems spielt Gießen international eine herausragende Rolle. Wir haben ein wissenschaftliches Netzwerk mit Kollegen aus Korea, Japan, Schweden, den USA, den Niederlanden und der Schweiz gegründet. Wir hatten zwei internationale Tagungen zum Thema in Rauischholzhausen. Wir geben das neu gegründete "International Journal for Research on Extended Education" heraus. Eine Kollegin formulierte einmal: "Die außerunterrichtliche Forschung geht wesentlich von Gießen aus." Das kann man so sagen.

Express: Zurzeit befragen Sie mit Ihrem Team Schüler und Pädagogen, um mehr über die Qualität pädagogischer Nachmittagsangebote an Ganztagsschulen zu erfahren. Was ist dabei herausgekommen?

Stecher: In der vom Bundesforschungsministerium geförderten Studie wurdengemeinsam mit Kollegen aus München, Dortmund und Frankfurt 35.000 Schüler aus ganz Deutschland befragt. Wir konnten nachweisen, dass ihnen diese Angebote Spaß machen und dass es positive Effekte beim sozialen Lernen gibt. Ihre Schulleistungen haben sich auch während der Pubertät zumindest nicht verschlechtert – normalerweise gehen die Noten in der 7. und 8. Klasse nach unten. Jetzt führen wir qualitative Interviews mit Schülern, Lehrkräften und Betreuern an zwölf Ganztagsschulen in Hessen durch, um die Angebote noch näher zu beleuchten. Zugleich entwickeln wir in einer anderen Studie einen Fragebogen, mit dem die Schulen selbst herausfinden können, wie gut ihre Angebote sind.

Express: Es heißt, dass sich Bildungsungleichheiten durch das außerschulische Angebote noch verstärken. Wie sehen Sie das?

Express: Wo liegen dann die Probleme?

Stecher: Grundsätzlich haben sich die Strukturen in den Schulen deutlich verändert. Vor allem an den Ganztagsschulen gibt es ein vielfältiges Angebot. Aber das allein reicht nicht. Es kommt auf die pädagogische Qualität dieser Angebote an. Ein Kind, das sich im Unterricht wohl fühlt und zum Nachdenken angeregt wird, lernt mehr. Ein Beispiel: Es gibt schöne Projekte mit Künstlern in Schulen. Aber so ein Angebot kann pädagogisch genauso schief gehen wie jeder andere Unterricht. Ein anderes Beispiel: Meine Tochter hat nach zwei Jahren aufgehört, Fußball zu spielen. Der Trainer hat quasi bei jeder Gelegenheit gezeigt, dass er grundsätzlich der Meinung war, dass Mädchen nicht in den Fußballsport gehören. Als Pädagoge müsste man in der Lage sein, zu reflektieren, ob man die Mädchen benachteiligt.

Express: Die Schulen sollten also nur noch Kräfte engagieren, die pädagogisch qualifiziert sind?

Stecher: Grundsätzlich würde ich mir das wünschen. Das ist der Kern der Schule. Aber für den weiten Bereich der außerunterrichtlichen Angebote ist das natürlich eine überzogene Forderung.

Express: Sie haben eine Jugendstudie geleitet, bei der herauskam, dass die heutige Generation gar nicht auf Krawall gebürstet, sondern sehr smart und bildungsorientiert ist. Hat sie das überrascht?

Stecher: Eigentlich nicht. Nach unserer Studie "Null Zoff und voll busy" von 2001 waren die Grundlinien schon abzusehen. Jetzt haben die Bildungsambitionen noch einmal deutlich zugenommen. Die Schule ist als Lebenswelt noch bedeutsamer für die Schüler geworden. Sie arrangieren sich prächtig mit den Institutionen der Erwachsenen. Auch ihr Vertrauen zu den Erwachsenen ist gewachsen. Aber wir sollten uns nicht täuschen. Die Jugend deutet ihre Welt auf ihre eigene Weise um. So ist die Schule ein Ort des Lernens, aber auch ein Ort, an dem man dem Lehrer Widerworte geben kann, an dem man seine eigene Meinung vertreten kann und sich nicht alles gefallen lassen muss. Es ist eine moderne Jugend, die ihre eigene Sicht auf Schule hat.

Interview: Gesa Coordes

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