Freitag, 19. April 2024
Thema der Woche | 20. November 2014

"Gefährlicher Wendepunkt"

Syrische Flüchtlinge im Libanon – Foto: Hammash

Libanons Regierung sucht Strategien, um die Einreise von Flüchtlingen aus Syrien zu kontrollieren, da die Aufnahmekapazitäten des Landes erschöpft sind. Warum muss die EU ihre Kontingente für syrische Flüchtlinge erhöhen und den Libanon entlasten? Interview mit Friedens – und Konfliktforscherin Susanne Schmelter.

EXPRESS: Gibt es Worte für die Not syrischer Flüchtling im Libanon?

Schmelter: Der Libanon ist das am stärksten vom Krieg in Syrien betroffene Nachbarland. Mit einer eigenen Einwohnerzahl von circa 4,5 Millionen hat der Libanon bereits mehr als 1,1 Millionen Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland aufgenommen. Allein im September 2014 gab es über 31.000 Neuregistrierungen. Die Zahl der nicht registrierten Flüchtlinge ist unbekannt; schätzungsweise handelt es sich aber um mehrere Hunderttausend. Das ohnehin sehr fragile Gleichgewicht der libanesischen Gesellschaft wird auf eine hohe Zerreißprobe gestellt.

EXPRESS: Das kann nicht lange gut gehen ...

Schmelter: Das ist richtig! Die Solidarität und Aufnahmebereitschaft der libanesischen Gesellschaft sind groß. Teilweise liegt das an Verwandtschaftsbeziehungen und politischen Allianzen über die Grenze hinweg sowie daran, dass viele Libanesen selbst schon einmal Zuflucht in Syrien gefunden hatten. Die gesellschaftlichen Spannungen nehmen allerdings mit der Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt stark zu. Auch die Wirtschaft ist durch den Krieg in Syrien stark beeinträchtigt. Nach Angaben der Weltbank und des libanesischen "National Poverty Targeting Program" sind seit Beginn des Krieges in Syrien viele Libanesen in die Armut abgerutscht. Besonders in weniger gut bezahlten Jobs kommt Konkurrenz auf. Syrische Flüchtlinge sind bereit bzw. gezwungen, für Hungerlöhne zu arbeiten. Umgekehrt spüren viele Flüchtlinge, dass sie bei der Arbeitssuche zunehmend Diskriminierung ausgesetzt sind.

Susanne Schmelter – Foto: Gebauer

EXPRESS: Wie geht der Libanon mit dieser Überforderung um?

Schmelter: Die gesellschaftlichen Debatten um die Flüchtlinge haben sich in den vergangenen Monaten deutlich verschärft, und die libanesischen Politiker denken fast täglich laut darüber nach, wie die Zahl der Syrien-Flüchtlinge begrenzt werden könnte. Vehemente Aktionen, wie beispielsweise syrische Geschäfte zu schließen und palästinische Syrer abzuschieben, gab es bereits öfters – landesweit einheitliche Gesetze zum Umgang mit den Schutzsuchenden wurden jedoch nicht verabschiedet. Seit Anfang Oktober werden nun erstmals deutlich weniger syrische Flüchtlinge ins Land gelassen. Die Kriterien, wem die Einreise gewährt wird und wem nicht sind aber bisher nicht klar festgesetzt.

EXPRESS: Wie steht es um die Internationale Unterstützung für den Libanon?

Schmelter: Der Libanon ist auf internationale Unterstützung angewiesen. Die Dichte von verschiedensten humanitären Organisationen ist sehr groß, sie haben gewichtigen Einfluss auf die Flüchtlingspolitik des Landes. Obwohl viel Geld in den humanitären Sektor fließt, reicht es nicht, um den Bedarf zu decken. Staatliche Institutionen sind nur schwach entwickelt und eine zentrale Koordination der unterschiedlichen humanitären Akteure und Strategien ist im Libanon daher eine besondere Herausforderung.

EXPRESS: Der Krieg in Syrien und damit die Situation der Flüchtlinge eskalieren weiter. Wie kann Hilfe langfristig angelegt werden?

Schmelter: Im vierten Jahr des Konfliktes beraten die humanitären Organisationen nun, wie sie ihre Arbeit mehr von Notfallversorgung hin zu längerfristig angelegten Entwicklungsprojekten orientieren können. Es sollen Zukunftsperspektiven für die Flüchtlinge in ihren Zufluchtsländern entstehen. Dabei wird in nationale Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Bildung und ökonomische Entwicklung investiert. Staatliche Institutionen und vor allem die lokale Ebene der Kommunen sollen unterstützt werden. Dies soll die Aufnahmekapazitäten des Landes stärken und Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Flüchtlingen mindern.

EXPRESS: Und Europa?

Schmelter: In Europa fällt die Aufnahmebereitschaft für syrische Flüchtlinge sehr gering aus. Insgesamt hat die EU der 28 bisher weniger als 30.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge aus Syrien bereitgestellt – 14 Mitgliedsländer keinen einzigen. Solche Aufnahmeaktionen werden im Libanon sehr genau wahrgenommen, zumal sonstige Fluchtwege nach Europa systematisch verschlossen werden. Allein in diesem Jahr sind bereits über 3000 Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ums Leben gekommen. Seit Sommer 2012 gehören syrische Flüchtlinge zur Hauptopfergruppe.

EXPRESS: Was muss passieren?

Schmelter: Der Libanon steht an einem gefährlichen Wendepunkt. Dem kleinen Libanon zuzurufen "Haltet Eure Grenzen auf!" und gleichzeitig die europäischen Grenzen zu schließen, ist zynisch. Europa muss seine Aufnahmeplätze für syrische Flüchtlinge signifikant erhöhen und dabei auch den Libanon spürbar entlasten. Für junge Studierende aus Syrien sollten in der EU vielfältige Stipendienprogramme aufgelegt werden, und die erweiterte Familienzusammenführung zu den syrischen Communities in Deutschland, Schweden und anderswo muss unbürokratisch ermöglicht werden. Mehr internationale Solidarität – vor Ort und bei der Flüchtlingsaufnahme in Europa – wäre das Gebot der Stunde, um die täglich größer werdenden Spannungen im Libanon zu mindern.

Susanne Schmelter
... war von November 2006 bis Januar 2008 AStA-Vorsitzende in Marburg und graduierte 2012 mit einem Master in Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität. Zur Zeit arbeitet Schmelter im Libanon an einer Promotion zur Politik humanitären Handelns in der syrischen Flüchtlingskrise.

Interview: Thomas Gebauer

Thema der Woche | 20. November 2014

Projektionen, Fantasien

"Nackte Agitation" & Beschleunigung beim Diskurs-Festival

Das Diskurs-Festival steht in langer Tradition für junge performative Künste in Gießen. Seit über 30 Jahren wird hier von Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft ein außergewöhnliches Festival gestaltet, dass es in dieser Form in keiner anderen Stadt gibt.

Das aktuelle Festival läuft noch bis zum 14. Dezember. Weiter geht's am kommenden Sonntag mit dem slowenischen Performance-Kollektiv "Maska Research Group" um Nika Arhar, Katja Cicigoj, Janez Jansa, Martina Ruhsam und Jasmina Zaloznik, das zusammen mit den Gästen zu einem der Themen unserer Zeit arbeiten wird: Die Beschleunigung unserer Lebenswelt zwingt uns, verschiedene Strategien zu entwickeln um mithalten zu können. Dabei ist Zeit kein Gefäß in dem wir uns befinden, vielmehr wird sie durch uns und unsere Bewegungen, unser Verhalten hergestellt. Das wird von der "Maska Research Group" mit Performances, Diskussionen und Workshops aufgearbeitet.

Margarita Tsomou: Stretching Attitudes

Projektionen, Fantasien und Mythen zum Thema Sexarbeit in Kunst und Medien, neuer Feminismus, der Kampf um Real Democracy – der 30.11. verspricht genauso aufregend, divers und kontrovers zu werden, wie die Themenfelder, mit der sich die Kulturwissenschaftlerin und Performerin Margarita Tsomou beschäftigt. Die gebürtige Griechin und Wahl-Berlinerin ist Mitinitiatorin und Herausgeberin des popfeministischen "Missy Magazine" und schreibt für Print und Radio. Neben ihrer journalistischen Arbeit behandelt Tsomou diverse Themen in künstlerischer Form: in der Performance "Nackte Agitation" (2010) beispielsweise reflektiert sie als feminin geltende Körperpraktiken als Gleichung zwischen Arbeit und Konsum im Neoliberalismus. Die Produktion von (Frauen-)Geschlecht wird dabei als immaterielle Arbeitsleistung im Alltag übersetzt – warum soll so nicht auch die Wertschöpfung der Beinschwünge eines Gogo-Girls kalkuliert werden können? "Nackte Agitation" ist eine humoristisch-kritische Antwort auf die Konjunktur feministischer Diskurse der letzten Jahre, die Tsomou in Auszügen beim Diskurs zeigen wird. In diesem Zusammenhang wird sie ihren Standpunkt als Pro-Sex-Feministin und queere Persönlichkeit darstellen und in Austausch mit den Gästen treten. Des weiteren erwartet das Publikum ein Bericht der Konferenz "Fantasies That Matter: Images of Sexwork in Media and Art", die im Sommer diesen Jahres auf Kampnagel in Hamburg stattfand (übrigens mit der legendären Mutter des Post-Porn, Annie Sprinkle). Anhand von Videos, Fotos und Auszügen aus Performances ergibt sich eine Vielzahl an Fragestellungen: Wie wird das Bild von Sexarbeit in der Gesellschaft visuell und narrativ repräsentiert? Was sagt dieses Bild über das gesellschaftliche Verhältnis zu Frauenarbeit, Sexualität und Sexualmoral, Gender, Migration und Armut?

Auch der nächste Themenkomplex soll Anstoß zu angeregten Diskussionen geben: Tsomou arbeitet seit Jahren zur Krise in Griechenland und der dortigen Widerstandsbewegung, sie interveniert als deutsch-griechische Journalistin, Dokumentaristin und Kulturaktivistin in den deutschen öffentlichen Diskurs um die europäische Schuldenkrise.Die Doktorandin desGraduiertenkollegs "Versammlung und Teilhabe" (Hamburg) wird in diesem Kontext unter anderem Teile ihrer Performance"The Garbage of History" zeigen, die aus unveröffentlichten Audio-Realfragmenten und Geräuschen besteht, welche Tsomou während der Demonstrationen am griechischen Syntagma-Platz für den WDR aufgezeichnet hatte.

Termine:
Sonntag, 23.11., 12 Uhr: Maska Research Group – "A Speculative Glossary", Technische Hochschule Mittelhessen (THM), Wiesenstraße 14 (im Glaspavillon)
Sonntag, 30.11., 12 Uhr: Margarita Tsomou – "Stretching Attitudes: Zwischen Arbeit & Sex, Pop & Feminismus, Riots & Krise", Probebühne II (Phil II)
Mehr Infos:

pe/kro

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