Neue Klänge in altem Fachwerk
Experimentelle Musik am 30. Mai in der Oberstadt / trugschluss-Konzert "#sechs. klanggang"
Die Marburger Konzertreihe trugschluss transportierte seit vergangenem Jahr experimentelle Musik mit internationalen Komponisten, Musikern und Performern schon an verschiedene Marburger Orte. Mit dem Konzert "#sechs. klanggang" gehen die trugschluss-Macher nun raus in die Stadt: Einen Samstagnachmittag und -abend lang bespielen wechselnde Formationen des Ensembles der Internationalen Ensemble Modern Akademie 2014/15 aus Frankfurt vier unterschiedliche charakteristische Plätze Marburgs: Kirche, Keller, Kratz und Klub.
Das Ensemble Modern gehört weltweit zu den Spitzenensembles, die sich auf die Interpretation von zeitgenössischer Musik spezialisiert haben. In der Akademie werden Qualität auf höchstem Niveau, Spielfreude und die Erfahrungen hinsichtlich interdisziplinärer Kunstprojekte an die Stipendiaten weitergegeben. Hannes Seidl Komponist und Dozent an der Philipps-Universität Marburg begleitet den Zug durch die Gassen der Oberstadt und führt in die verschiedenen künstlerischen Positionen zwischen 1955 und 2015 ein. Jeder ist eingeladen zu einem akustischen und sinnlich-verdrehten Spaziergang durch die Oberstadt spontane Anhänger sind willkommen.
Bereits ab Dienstag, 26. Mai, öffnet trugschluss täglich das Ladenlokal Kratz und vereint auf der open stage unterschiedliche Künstler, Musiker, Bastler und Performer. Das Programm wird kurzfristig unter www.trugschluss-konzerte.de bekannt gegeben.
Hier einen überblick über die vier Spielorte:
Startpunkt ist die Unixbar am Grün (16 Uhr)
Noch bevor der Raum am Abend zur Party-Zone wird, lassen sich die Instrumentalisten des IEMA-Ensembles auf die Konfrontation mit der Technik ein: Mensch versus Maschine. Im Werk music while waiting / music while working (2014) des jungen brasilianischen Komponisten Ricardo Eizirik wird Musik "aus der Konserve" hinterfragt, wie sie uns alle beim Arbeiten, beim Einkaufen oder in der Telefonwarteschleife durch den Alltag begleitet. Brian Ferneyhough als einer der weltweit gefragtesten Komponisten unserer Zeit treibt die Flöte mit seinem hochkomplexen Werk bis an die Grenzen der Spielbarkeit. Der Mensch droht hier gegenüber der perfekten Maschine zu scheitern. Michael Gordon hingegen vereint beide in "industry", macht die Elektronik zur akustischen Extension und Verstärkung des solistischen Cellos und potenziert damit Klangschichten, die sich zu einem soghaften Dröhnen vereinen.
Vom Klub in die Kirche (17.30 Uhr).
Die elektronische Verstärkung entfällt, stattdessen ist größter Körpereinsatz der Musiker gefordert: Mauricio Kagel, einer der großen Kreativköpfe der Nachkriegsavantgarde, lässt in seinem 1970 entstandenen instrumentalen Theater "Match" zwei Cellisten sind es Musiker oder Sportler? einen Wettkampf austragen. Zwischen ihnen agiert das Schlagzeug als (Gegen-)Spieler oder Unparteiischer. Im Kontrast dazu entfaltet Emmanuel Nunes "Versus III" Spektralklänge im Kirchenraum, die kurzzeitig in transzendentale Welten entführen können, und der Schwede Pär Lindgren lässt Klarinette und Perkussion sich annähern, zunächst punktuell, dann mit zunehmender Intensität.
Von der Kirche in den Fachwerk-Gewölbekeller (19 Uhr)
"Komponieren heißt ein Instrument bauen" lautete das Credo Helmut Lachenmanns in den 1970er Jahren. In "Pression" ist es ein traditionelles Violoncello, das er durch Reiben, Schlagen, Kratzen oder Klopfen auf seine Klänge abhorcht und so zu einem völlig neuartig klingenden Instrument "umbaut". Zihua Tan übersetzt in seinem 2014 entstandenen Werk "[this] connection" ein typisches Phänomen unseres Medienzeitalters in Musik: Die drei Solisten behandeln ihr Instrument wie ihre Smartphones so beschreibt es der Komponist selbst und agieren vertieft und abgeschieden von der unmittelbaren Umgebung vor sich hin.
Finale und open end im Kratz (20 Uhr)
In Georges Aperghis "á bout de bras" ergeben sich Oboe und Klarinette synchron, lautstark und mit vollem Körpereinsatz einer Überbietungslogik in höchsten Lagen, die angestrengtes und konzentriertes Spielen wie Hören gleichermaßen erfordert. Nachdem in Jóse María Sánchez Verdús "Qasid 3" der expressiven Ausdruckskraft der Musik nachgespürt wird, wird mit Guillaume Connessons "techno parade" schließlich der Teil der Veranstaltung eingeläutet, der bei Bier und Salzstangen bis open end zum Austausch über einen vermutlich verdrehten Blick auf die Marburger Oberstadt und die kontroversen Musikstationen einlädt.