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Thema der Woche | 5. November 2015

"Es gibt viele Mut machende Erfahrungen"

Flüchtlingsarbeit von der Erstaufnahme bis zur Integration: Interview mit Kinder- und Jugendpsychiater Klaus-Dieter Grothe – Foto: Erik Marquardt

Express: Herr Grothe, immer mehr Flüchtlinge kommen in kürzerer Zeit. Was sind die größten Probleme bei der Unterbringung der hilfesuchenden Menschen?

Klaus-Dieter Grothe: Im Moment gibt es natürlich Probleme mit der ersten Unterbringung. Hier geht es um Notversorgung, den Leuten ein warmes Dach über dem Kopf zu bieten. Da muss man sich auch mal mit Lagerhallen oder Zelten behelfen, das ist nicht schön, aber immer noch besser als im Freien zu schlafen. Das wissen die Leute auch. Aber auch das muss organisiert werden und da gab es am Anfang nach meiner Einschätzung wenig Erfahrung mit. Wann wurde denn zuletzt auch in Deutschland ein Flüchtlingslager aufgebaut? Das hat man doch bis jetzt eher in Afrika vermutet.

Express: Wie kann man die Situation in den Erstaufnahme-Einrichtungen verbessern? Sie kennen die Situation in Hessens größter Einrichtung in Gießen – woran fehlt es besonders?

Grothe: Wie gesagt, handelt es sich in Gießen um eine Notversorgung für den ersten Moment. Da mussten die verschiedenen Ämter und Organisationen Erfahrungen aufbauen, wie man ein solches Lager organisiert, mit Unterbringung, Essen und medizinischer Versorgung. Das Problem in Gießen ist, dass diese Einrichtung sehr groß geworden ist, zu groß, um sie gut zu organisieren. Dann kommt dazu, dass viele Personengruppen länger in dieser als Notversorgung organisierten Einrichtung bleiben müssen, oft mehrere Monate. Und ein Notaufnahmelager ist eben nicht für mehrere Monate, manchmal ein halbes Jahr und länger, gedacht. Da gibt es keine Schule, keine Beschäftigung, nichts. Die Verwaltung schafft es ja nicht mehr, die Leute überhaupt zum Reinigungsdienst einzuteilen oder zum Müll aufsammeln. Das wäre sicher hilfreich, sowohl für die Leute im Lager,als auch für die Bevölkerung außerhalb.

Express: Wiederholt wurde über gewalttätige Auseinandersetzungen in Flüchtlingseinrichtungen berichtet. Warum kommt es zu solchen Vorfällen? Was kann man dagegen tun?

Grothe: Wenn die Leute so aufeinander hocken und es keine Beschäftigung gibt, führt das bei so vielen Menschen unweigerlich zu Konflikten. Man muss sich nur einmal die mehr als 100 Meter lange Schlange bei der Essensausgabe ansehen, da weiß man, was ich meine. Dann gibt es natürlich auch Konflikte untereinander: es gibt Gruppen, die wissen, dass sie nicht aus dem Lager verlegt werden, weil ihr Asylverfahren wenig ausssichtsreich ist, die fühlen sich da über Monate eingesperrt, wie z.B. Kosovaren und Albaner – und es gibt andere Gruppen, die werden innerhalb von Wochen weiter verlegt und ihr Asylverfahren ist aussichtsreich, wie z.B. Syrer. Das führt natürlich zu viel Neid untereinander und geht nicht ohne Reibereien ab. Dann gibt es natürlich auch Vorurteile und Rassismus der Gruppen untereinander.

Express: Was sind das für Vorurteile?

Grothe: Religion spielt da übrigens nach meiner Kenntnis weniger eine Rolle als unterschiedliche Hautfarbe, zumindest war das in Gießen bis jetzt der Fall. Man hört von anderen Einrichtungen, da gab es Streit um religiöse Fragen. Ich finde, dass dann Verantwortliche des Staates (Minister, Bürgermeister) sofort hingehen müssten und den Leuten erklären, was in Deutschland das Recht auf Religionsfreiheit bedeutet. Und bei Leuten, die kriminell handeln, werde ich im Laufe der Zeit immer radikaler. Die schaden allen wirklichen Flüchtlingen und gegen die müsste man viel schneller und konsequenter vorgehen.

Übrigens sehe ich da einen großen Nachteil des letzten Asylkompromisses: darin wird die Aufenhaltsdauer auf die Dauer des Asylverfahrens festgelegt. Das sind im Schnitt 5 Monate, für einige Gruppen dauert das aber auch bisher ein bis zwei Jahre. Wenn die solange in der Erstaufnahme bleiben müssen, ohne Deutschkurs, ohne Beschäftigung, dann wird das richtig knallen.

Express: Sie arbeiten als Psychologe mit traumatisierten Flüchtlingen. Welchen Einfluss haben Gewalterfahrungen auf das Verhalten?

Grothe: Gewalterfahrungen im Krieg oder unter Folter sowie weitere traumatisierende, lebensgefährliche Erfahrungen wie z.B. auf der Flucht über das Meer oder durch die Wüste, führen entgegen landläufiger Meinung meiner Erfahrung und Erkenntnis nach nicht zu eigenem gewalttätigem Verhalten. Gewalttätiges Verhalten entsteht, wenn überhaupt, eher sekundär, d.h. wenn soziale Beziehungen in die Brüche gehen und man sich alleine, einsam und für niemand mehr verantwortlich fühlt. Die Menschen, die Krieg, Diktatur und Folter erlebt haben, wollen nichts mehr als klare und geordnete soziale und rechtliche Verhältnisse. Aus diesem Grund kommen sie ja nach Deutschland: weil dieser Staat nach Recht und Gesetz geführt wird und nicht nach Willkür und Gewalt. Deshalb hat vor allem die deutsche Polizei meist einen höheren Stellenwert als bei vielen der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Ein somalischer junger Mann hat mir gegenüber das mal auf den Punkt gebracht: "Ich liebe die deutsche Polizei: die fragt erst, bevor sie schlägt. Bei uns in Somalia ist das umgekehrt."

Express: Welche Schritte müssen folgen, um die Menschen langfristig bei uns zu integrieren?

Grothe: Natürlich als erstes Sprachkurse, als nächstes die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt. Wenn jetzt zu hören ist, dass die Menschen als erstes unser Grundgesetz lernen sollten, dann sollte man darauf hinweisen, dass dies schon Bestandteil der Sprach- und Integrationskurse ist. Als nächstes kommt natürlich das Problem des Wohnraums und der Arbeit, wobei ich die Arbeit als das wichtigere sehe. Wenn man Arbeit hat, findet man auch bald eine eigene Wohnung. Die Wohnungen müsste man auch nicht alle neu bauen. Es gibt in den Dörfern viel Leerstand, vor allem in den Ortskernen, den müssten man aktivieren.

Express: Wird sich darum ausreichend vom Bund oder den Ländern gekümmert?

Grothe: Bis jetzt war ein großes Problem, dass die geflüchteten Menschen erst nach ihrer Asylanerkennung Sprachkurse besuchen konnten. Da das bei vielen oft ein bis zwei Jahre dauerte, war wertvolle Zeit vertan. Das war äußerst negativ. Man sollte es so machen wie bei den minderjährigen Flüchtlingen in Gießen: die bekommen Sprachkurse vom ersten Tag an!

Die meisten können sich dann innerhalb eines halben Jahres verständigen. Das müsste es auch bei den Erwachsenen geben, da ist noch viel zu tun. Auch bei der Qualifizierung für unseren Arbeitsmarkt braucht es Hilfen, da kommt auf die Beschäftigungsträger wie die Jugendwerkstatt oder ZAUG einiges an Arbeit zu. Da sehe ich noch nicht, dass dies vom Bund und den Ländern ausreichend finanziert wird. Da wird auch einiges auf die Universitäten zukommen: ca. 50.000 der Menschen aus Syrien, die dieses Jahr gekommen sind, haben dem Abitur vergleichbare Abschlüsse. Wenn die innerhalb des nächsten Jahres deutsch gelernt haben, – und glauben sie mir, das geht bei denen schnell –, werden sie in einem Jahr vor den Toren der Universitäten stehen. Auf die kommen dann ganz neue Aufgaben zu, bisher hatten die ja mit Flüchtlingen nicht viel zu tun.

Express: Glauben Sie, dass in Deutschland nach der Welle der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge die Stimmung kippt und rechte Bewegungen wie Pegida, die Vorurteile und dumpfe Ängste vor dem Fremden schüren, langfristig erstarken könnten? Wie kann man das verhindern?

Grothe: Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Alle Menschen wie ich, die seit Jahrzehnten Flüchtlingsarbeit machen, haben sich ja über diesen Sommer nur gewundert und wir haben mit offenen Mündern dagestanden, was sich da für eine Stimmung gezeigt hat, sowohl bei der Bevölkerung als auch in Teilen der Politik. Da sind nicht nur mir die Tränen gekommen. Es gibt viele Mut machende Erfahrungen und wenn nur ein Teil dieser Stimmung und dieses Einsatzes den Winter überlebt, bin ich schon glücklich. Ich bin da auch eher positiv gestimmt: wir wissen, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dort am besten gedeiht, wo es keine direkten persönlichen Begegnungen gibt, wo man sich nicht kennt. Da jetzt so viele Flüchtlinge kommen, werden auch mehr Menschen in Kontakt mit ihnen kommen. Und mehr persönliches Kennenlernen bedeutet eben auch weniger Fremdenfeindlichkeit. Natürlich wird es auch Gegenbewegungen geben, damit müssen wir dann leben.

Dokumentation: Flucht aus Syrien
Wie sieht der Weg der Flüchtlinge von Syrien bis nach Deutschland aus?
Der Fotojournalist Erik Marquardt (Berlin) hat die Fluchtbewegung auf der sogenannten Balkanroute im August und September begleitet. Er hat eine beeindruckende Dokumentation erstellt, die er am Donnerstag, 5.November, um 20 Uhr unter dem Titel "Von Syrien nach Gießen" in der Kongresshalle vorstellen wird.
Zur Begleitung spielt ein syrisch-deutsches Musikprojekt.

Interview: Georg Kronenberg

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