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Thema der Woche | 16. Juni 2016

Studierende der "ersten Generation"

Arbeiterkind.de hilft Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern
Foto: Coordes

Eigentlich hatte Niclas Brünjes den Traum vom Medizinstudium schon längst aufgegeben. Schließlich war er – ebenso wie seine Eltern – schon nach der Mittleren Reife von der Schule abgegangen. Knapp neun Jahre arbeitete er in der Heilerziehungspflege und im Rettungsdienst. Doch er machte eine anspruchsvolle Weiterbildung zum Wohngruppenleiter, ein Äquivalent zum Meister. Und in dieser Zeit öffneten sich die Hochschulen für Studierende, die kein Abitur, aber einen Meistertitel vorweisen können. Ein Jahr später hatte er einen Studienplatz an der Uni Marburg. "Ich habe wirklich Glück gehabt", sagt der 28-Jährige, der nun im siebten Semester studiert.

Seit zwei Jahren engagiert er sich bei der Initiative von Arbeiterkind.de, ein Netzwerk mit bundesweit mehr als 6000 ehrenamtlichen Mentoren, die junge Leute aus bildungsfernen Elternhäusern zum Studium ermutigen und unterstützen. Zweimal im Monat trifft sich die Marburger Gruppe zum Stammtisch. Fast alle sind Studierende der "ersten Generation" – ohne Vorbilder in der Familie und ohne Rücklagen auf dem Konto. So war für Aileen Franke, Tochter eines Bauarbeiters und einer Zahntechnikerin, bereits das Abitur etwas Fremdes. Heute ist sie Biologin und promoviert über Nervenzellen. Während des Studiums war sie hauptsächlich mit Arbeiterkindern befreundet. "Wir haben uns gegenseitig unterstützt", erzählt die 28-Jährige.

Das macht auch die Marburger Ortsgruppe von Arbeiterkind.de, die schon 2009 gegründet wurde – kurz, nachdem die bundesweite Initiative in Gießen ins Leben gerufen worden war. Gründerin Katja Urbatsch – selbst ein Arbeiterkind – ist Preisträgerin des Marburger Leuchtfeuers für soziale Bürgerrechte und kommt regelmäßig bei den Marburgern vorbei. Ihr Ausgangspunkt: "Es kann nicht sein, dass es vom Bildungsstand der Eltern abhängt, ob ein Kind erfolg­reich sein kann." Doch es studieren mehr als drei Viertel der Akademiker­kinder, aber noch nicht einmal ein Viertel der Nicht-Akademikerkinder.

Eine wichtige Aufgabe der in Trainings und Workshops fortgebildeten Aktiven sind die Schulpräsentationen, die Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern Mut und Lust auf ein Studium machen sollen. Vorgestellt wird das Netzwerk, das Hilfen und Informationen zu Studienwahl,Stipendien, wissenschaftlichem Arbeiten, Auslandsaufenthalten, Praktika und viele Kontakte zu Mentoren bietet. Die Studienfinanzierung nimmt naturgemäß einen breiten Raum ein. So hat der angehende Marburger Friedens- und Konfliktforscher David Schnabel seine Bewerbungen für Stipendien mit Hilfe des Netzwerks geschrieben.

Viele müssen jobben, um über die Runden zu kommen. Niclas Brünjes verkauft Kaffee und Brötchen im Mensa-Mobil. Die Kulturanthropologiestudentin Carolin Göpfert – Tochter einer alleinerziehenden Floristin – kellnert, spült und putzt. Von den Kreditkarten mancher Kommilitonen kann sie nur träumen.

Aber auch die Orientierung an der Hochschule ist für Arbeiterkinder oft schwieriger als für ihre Kommilitonen aus Akademikerfamilien. So fand Niclas Brünjes den Studienstart "ziemlich hart": "Am Anfang habe ich noch versucht, den Stoff nicht nur auswendig zu lernen, sondern zu verstehen", sagt er über das Lernpensum der Mediziner: "Aber das habe ich schnell aufgegeben."

Treffpunkt der Gruppe ist der Stammtisch, zu dem auch Edeltraud Niehoff (60) regelmäßig kommt. DieNeurentnerin erinnert sich noch gut, wie sie vor über 30 Jahren aus einem westfälischen Dorf nach Marburg kam. "Der Sprung war heftig", sagt die Machinistentochter, die ihren Lebensweg der damaligen Bildungsoffensive zu verdanken hat. Jetzt knüpft sie die Kontakte zu den Schulen, die mittlerweile bis nach Schwalmstadt reichen.

In Gießen gegründet
Die Initiative "Arbeiterkind.de" wurde 2008 in Gießen von Katja Urbatsch gegründet, die dort am Internationalen Graduiertenzentrum für Kultur­wissen­schaften arbeitete. Urbatsch ist heute Geschäftsführerin von "Arbeiterkind.de", promoviert aber noch in Gießen. Seit 2011 hat die Initiative ihren Sitz in Berlin. Sie hat mittlerweile 80 Ortsgruppen und mehr als 6000 ehren­amt­liche Mentoren.
In Gießen trifft sich die Gruppe jeden 3. Donnerstag im Monat um 18 Uhr im Café DaVinci (Neuenweg 7) zum Stammtisch. Es kann jeder kommen, der Fragen hat oder sich für die Arbeit interessiert. Weitere Infos: Tel. 0641-9912097.
Die Marburger Gruppe trifft sich jeden 1. und 3. Mittwoch im Monat um 20 Uhr in der Einzimmer-Küche-Bar (Gerhard-Jahn-Platz 11). Weitere Informationen: www.arbeiterkind.de und unter Tel. 030-679672750 (Montag bis Donnerstag 13 bis 18.30 Uhr).
gec

Gesa Coordes

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