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Thema der Woche | 29. Juni 2017

Marburgs Neue

Kirsten Dinnebier soll zur Stadträtin und Wieland Stoetzel zum Bürgermeister gewählt werden – Foto: Coordes

Das Herz an der linken Stelle: Kirsten Dinnebier

Sie war die erste in ihrer Familie, die Abitur machte. Sie war auch die erste, die studierte. Jetzt wird sie – aller Wahrscheinlichkeit nach – hauptamtliche Stadt­rätin in Marburg. Kirsten Dinnebier (51) soll in Zukunft für Schule, Bildung und Jugend in der Universitätsstadt zuständig sein. Am Freitag soll sie mit der neuen Mehrheit aus SPD, CDU und Bürgern für Marburg gewählt werden: "In meiner Geburtsstadt hauptamtlich Politik zu machen, ist eine einmalige Chance", sagt die Sozialdemokratin.

Kirsten Dinnebier ist in einem Hochhaus am Marburger Richtsberg auf­ge­wachsen. Für viele ist der Stadtteil vor allem ein sozialer Brennpunkt. Für Dinnebier ist er prägendes Zuhause, Wohnort vieler Freunde und engagierter Menschen. Und er bedeutet "Empathie für Menschen, die es nicht so leicht im Leben haben", so sagt sie. Bis heute lebt sie in unmittelbarer Nähe mit Blick auf ihr Elternhaus.

Sie ist die Tochter einer – zumindest in Gewerkschaftskreisen – berühmten Marburgerin. Käte Dinnebier galt in der Universitätsstadt als Institution. Als sie sich zur Kommunalwahl 2001 aufstellen ließ, wurde sie um 30 Plätze nach oben gewählt und schaffte damit den größten Listen-Sprung in ganz Hessen. 17 Jahre lang war sie Hessens einzige weibliche DGB-Kreisvorsitzende. Sie galt als mutige und kämpferische Gewerkschafterin, die sich für die Gleichberechtigung von Frauen, aber auch für Ausländer einsetzte.

Auf ihre Mutter angesprochen zu werden, stört Kirsten Dinnebier, die selbst schon große Listensprünge schaffte, nicht. "Das ist eine Verpflichtung", sagt die 51-Jährige: "Ich engagiere mich besonders für die, die nicht so viele Mög­lich­keiten haben." Welche Schwierigkeiten es dabei gibt, weiß sie aus vielen Zusammenhängen. Sie selbst besuchte auf Empfehlung der Grundschullehrerin ein humanistisches Gymnasium. Doch als Arbeiterkind unter all den Aka­dem­iker­sprösslingen fühlte sie sich nicht wohl. Erst über die Gesamtschule Richts­berg und das berufliche Gymnasium (im Zweig Maschinenbau) schaffte sie das Abi und studierte Soziologie.

Zur Gewerkschaft kam sie schon mit 14, der Eintritt in die SPD folgte mit 19. Sie war mehr als 20 Jahre im Vorstand des SPD-Ortsvereins am Richtsberg, engagierte sich auf Landesebene bei der Gewerkschaft Verdi und als nicht freigestellte Betriebsratsvorsitzende von Integral. Seit vielen Jahren machtsie als Stadtverordnete und Vorsitzende des Schul- und Kulturausschusses Kom­mu­nal­politik. Im März wählten die Marburger Sozialdemokraten sie zur Partei­vorsitzenden.

Als sie vor mehr als 30 Jahren in die SPD eintrat, begeisterte sie die rot-grüne Koalition, die damals in Marburg geschmiedet wurde. "Mein Herz schlägt an der linken Stelle", sagt sie unumwunden: "Ich weiß, dass ich damit auch polarisiere." In früheren Jahren habe ihr das gelegentlich üble Beschimpfungen von poli­ti­schen Gegnern eingetragen.

Dass sie nun ausgerechnet im Bündnis mit der CDU und den Bürgern für Marburg zur Stadträtin gewählt werden soll, hätte sie nicht gedacht: "Aber ich muss eingestehen, dass es mit rot-grün und einem dritten Partner leider nicht ging." Und die Verhandlungen mit der CDU seien "erstaunlich einfach, sachlich und freundlich" abgelaufen.

Seit 2002 arbeitet sie bei dem kommunalen Beschäftigungs- und Bildungs­träger Integral, der sich vor allem um Langzeitarbeitslose kümmert. Dinnebier war zunächst Referentin für berufliche Orientierung, seit 2008 ist sie Ab­teil­ungs­leiterin für Ausbildung und Maßnahmemanagement, seit mehr als zehn Jahren auch Betriebsratsvorsitzende.

Als Stadträtin möchte sie den "ganzheitlichen Bildungsbegriff" intensivieren, die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule und die Kooperation mit außerschulischen Partnern verstärken. Chancengerechtigkeit ist ohnehin ihr Thema, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch. Wie wichtig das ist, weiß sie aus eigener Erfahrung. Dinnebier war viele Jahre allein erziehend. Deswegen dauerte ihr Studium deutlich länger. Sie finanzierte es sich als Fahrerin für ein Dentallabor, Verkäuferin in einem Bettengeschäft und als studentische Hilfskraft. Inzwischen ist Kirsten Dinnebier wieder verheiratet, die Tochter hat gerade ihren Bachelor gemacht.

Die Stelle zu teilen, wie es die scheidende Stadträtin Kerstin Weinbach ver­geb­lich versuchte, ist für sie keine Option: "Ich möchte eine ganz normale Voll­zeit­stelle", sagt sie. Schließlich hatte sie auch als Alleinerziehende eine volle Stelle. Und sie hat sich fest vorgenommen, im Laufe der Zeit in jedem städtischen Kindergarten und bei städtischen Jugendeinrichtungen je einen Praxistag zu verbringen. Dinnebier: "Nur vor Ort kann man sich wirklich ein Bild von der Arbeit machen."

Wieder an der Macht beteiligt: Wieland Stoetzel

Marburgs grüner Bürgermeister Franz Kahle war wohl sein Lieblingsgegner. Gegen dessen Ideen von Seilbahn und "Solarzwang" ist er ungezählte Male mit scharfen Worten vorgegangen. Jetzt wird er ihn im Amt ablösen. Am Freitag soll der Christdemokrat Wieland Stoetzel (39) von dem neuen Bündnis aus SPD, CDU und Bürgern für Marburg zum Bürgermeister gewählt werden. Damit ist die CDU erstmals nach zwölf Jahren wieder an der Macht beteiligt.

Wieland Stoetzel wurde schon in der Schulzeit zum "politischen Menschen", wie er sich selbst nennt. Der Sohn eines Steuerberaters und einer Sekretärin aus dem Siegerland kam als 14-Jähriger zur Schüler Union, wo er auf Kreis- und Bezirksebene aktiv wurde. Die rot-grüne Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen nennt er als Grund. Zum Jura-Studium ging er nach Marburg, wo er beim RCDS einstieg. Er engagierte sich im Fachbereichsrat, im Studentenparlament, als stellvertretender RCDS-Landesvorsitzender und als Senator. Einige Monate war er sogar Verkehrsreferent im Asta. Und er fand Gefallen daran, "etwas zu bewegen", wie er sagt.

Kurz nach dem Studium wurde er Vorsitzender der Jungen Union in Marburg. 2006 – da war er gerade 29 Jahre alt – stieg er zum jüngsten ehrenamtlichen Magistratsmitglied Marburgs und zum CDU-Fraktionsgeschäftsführer auf. Die Politik in der Universitätsstadt fand er oft "ideologisch". Als Beispiele nennt er nicht nur die umstrittene Seilbahn auf die Lahnberge, die inzwischen nicht weiter verfolgt wird, und die einst geplante Solarsatzung, nach der sich Bau­herren eine Solaranlage aufs Dach setzen sollten – sie scheiterte an der Landes­ge­setz­gebung. Auch Tempo 80 auf der Stadtautobahn bringe nichts, so Stoetzel. Und die vielen Projekte für den Umweltschutz – Bienenhotels, essbare Stadt und faire Stadt nennt er als Beispiele – sind ihm zu teuer: "Was da für ein Geld herausgepfeffert wurde", kritisiert er.

Von Anfang an begleitet hat er die Diskussion um die Marburger Altenhilfe, an der die langjährige rot-grüne Koalition einst zu zerbrechen drohte. Bei diesem Thema seien sie eigentlich immer auf der Linie der SPD gewesen, die aus wirt­schaftlichen Gründen für ein Altenheim mit 80 Plätzen plädierte. Das neue Konzept mit dem dreigeschossigen Neubau, der einen der drei Wohntürme des Altenpflegeheims auf dem Richtsberg ersetzen soll, hält er nun für eine "sehr schöne Lösung".

In Zukunft wird er für Bauen, Planen, Umweltschutz sowie Sicherheit und Ordnung zuständig sein. Stoetzel ist überzeugt davon, dass er im Rathaus gut mit SPD-Ober­bürger­meister Thomas Spies und der zukünftigen Bildungs- und Jugenddezernentin Kirsten Dinnebier zusammenarbeiten wird, obgleich beide eher dem linken SPD-Flügel zugerechnet werden. "Das sind realistische Menschen, die wissen, was möglich ist", sagt der Jurist: "Wir sind da wirklich auf einer guten Ebene angekommen." Für Großprojekte sieht er in seinem Dezernat keinen Spielraum: "Es geht darum, den Haushalt solide zu gestalten", so Stoetzel. Das werde auch "weh tun", prognostiziert er: "Aber man kann nicht über Jahre hinweg die Ausgaben mehr steigern als die Einnahmen."

Die Partnerschaftsvereinbarung mit dem Bauprogramm für Schulen und Kindergärten sowei der Baulandentwicklung in den Außenstadtteilen müsse umgesetzt werden. Zudem brauche es ein Verkehrskonzept, "dass allen Beteiligten gerecht wird". Sicherlich sei im Radverkehr einiges zu tun, sagt der 39-Jährige, der Radfahren und Kochen als Hobby nennt. "Aber man darf auch die Autofahrer nicht schikanieren", so Stoetzel.

Immer neue Herausforderungen hat der Jurist auch beruflich gesucht: Nach mehreren Jahren als Rechtsanwalt für Arbeits- und Baurecht wechselte er als Strafrichter zum Amtsgericht Gießen, wurde dann Staatsanwalt in Wetzlar, um sich 2014 für zwei Jahre nach Wiesbaden locken zu lassen. Unter Minister­präsident Volker Bouffier wurde er zunächst Referatsleiter für Justiz­an­ge­le­gen­heiten in der Staatskanzlei. Dann arbeitete er ein Jahr lang als wissen­schaft­licher Mitarbeiter dem Vorsitzenden im hessischen NSU-Unter­suchungs­aus­schuss zu. Inhaltlich möchte sich der Christdemokrat dazu nicht äußern. Nur so viel: "So ein Großverfahren zu begleiten, ist sehr spannend", sagt Stoetzel. Im Untersuchungsausschuss hat Ministerpräsident Bouffier gerade als Zeuge ausgesagt. Doch Stoetzel ist schon seit Herbst wieder im Amtsgericht Marburg, wo er sich um Betreuungssachen kümmert. Menschlich schwierige Schicksale und häufige Besuche in der Psychiatrie gehören dazu.

2011 hat der ledige Christdemokrat übrigens auch versucht, Ober­bürger­meister von Marburg zu werden. 18 Prozent der Stimmen holte er gegen den beliebten SPD-Mann Egon Vaupel.

Gesa Coordes

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