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Thema der Woche | 16. November 2017

Partymeile an der Lahn

Unterwegs im Marktdreieck – Foto: Kronenberg

Vom Fluß steigt Kälte auf. Acht Grad zeigt das Thermometer an diesem Novemberabend. Die Jugendlichen, die sich auf den Lahnterrassen vor der Marburger Mensa treffen, scheint das kaum zu schrecken. Dass sich hier eine "No-go-Area" ausgebreitet hat, wie es die FDP im Stadtparlament nannte, haben die meisten noch nie gehört.

"Gucken Sie mal, wie ruhig das hier ist", sagt eine 18-Jährige mit weit aus­holender Geste. Die Auszubildende hat sich mit ihren Freundinnen und einer Wodkaflasche auf den Stufen niedergelassen: "Man braucht doch einen Platz, wo Jugendliche chillen können", sagt sie. Neben ihr steigen vier südländisch aussehende junge Männer die Treppen hinauf: "Es ist eigentlich nicht gefährlich hier", sagt der erste. Die Gruppe kommt nicht aus Nordafrika, sondern aus Tadschikistan. Im Studienkolleg bereiten sie sich auf das Studium vor. Tief in der Nacht sollte man vielleicht nicht herkommen, empfiehlt einer der an­ge­hen­den Studenten. Das weiß er, weil er in der Klausurphase manchmal auf dem Rückweg von der Universitätsbibliothek – sie schließt um Mitternacht – an den Lahnterrassen vorbeikommt. Und zumindest im Sommer gebe es da einige Betrunkene.

Vor einem Monat machte eine Massenschlägerei an den Lahntreppen Schlag­zeilen. Rund 40 syrische und afghanische Flüchtlinge waren aus bis heute ungeklärter Ursache aufeinander losgegangen. Das Ergebnis: Zwei Afghanen, 16 und 19 Jahre alt, wurden schwer verletzt. Eine Parkbank wurde zerstört, um eine herausgebrochene Latte als Schlagwaffe zu benutzen. Zwei 18-jährige Syrer wurden vorläufig festgenommen. Die Polizei rückte mit neun Streifen­wagen an.

Aber selbst CDU-Bürgermeister Wieland Stötzel sagt: "Es war beleuchtet, es waren viele Menschen da. So etwas kann man nicht verhindern." Die Schlägerei fand nämlich am frühen Abend während der direkt daneben gelegenen Innen­stadt­kirmes statt.

Von der Schlägerei haben die Mitarbeiter der bis 20 Uhr geöffneten Marburger Mensa nichts mitbekommen. Sie beklagen aber schon seit Jahren krakeelende und trinkende Jugendliche direkt vor ihrer Haustür, die das Mobiliar demolieren und bedrohlich auf die Gäste wirken: "Im letzten Jahr ist es besonders schlimm geworden", berichten sie. Jeden Freitagabend sei die Polizei angerückt: "Wenn da draußen zehn bis zwölf Jugendliche lautstark trinken, geht von uns keiner mehr hin", sagt eine Mitarbeiterin: "Als Frau hat man da richtig Angst." Besonders beunruhigend finden sie das Drogenproblem: "Wir haben von hier drinnen gesehen, wie Geld und Tütchen verschoben wurden", berichten sie.

Vermutlich handelte es sich um Hasch oder Gras. Das ist jedenfalls der Geruch, der fast jeden Abend von den Lahnterrassen herüberweht, berichtet eine Sozial­wissen­schaftlerin, die mit ihrem dreijährigen Sohn im Mensa-Bistro zu Abend isst. Als sie vor acht Jahren nach Marburg zog, hätten fast nur Studierende auf den Lahnterrassen gesessen, die sich zum Reden oder Picknicken getroffen hätten. Jetzt habe jeder seinen Grill dabei. Und schon um 17 oder 18 Uhr tränken alle Alkohol – sowohl die Deutschen als auch die ausländischen jungen Männer: "Ich fühle mich da nicht mehr sicher", sagt sie.

Vor zehn Jahren gab es am benachbarten Marktdreieck schon einmal so viel Ärger, dass die Stadt ein befristetes Alkoholverbot für die öffentlichen Plätze in diesem Areal aussprach. Damals ging es vor allem um saufende Teenies. "Die haben auch Krawall gemacht", sagt eine Mensa-Mitarbeiterin: "Aber das waren Kinder." In der Tat ging es damals vor allem um Schüler, die randalierten und sich ins Koma soffen. Dagegen entzündet sich die Kritik jetzt vor allem an den ausländisch aussehenden jungen Männern, obgleich die nur einen Teil der Lahn­be­sucher bilden.

Vor der Mensatür sitzen drei südländisch aussehende junge Männer. Syrer alle drei, zurzeit besuchen sie einen Sprachintensivkurs. Sie haben sich gerade einen Döner vom benachbarten Supermarkt geholt, den sie nun im wärmenden Licht der Mensa essen. "Wir wollen hier arbeiten und eine Ausbildung machen, keine Probleme", sagt ein 20-Jähriger. Und wenn der Krieg endlich vorbei ist, gehen wir sofort zurück, sagen sie. Es klingt fast verzweifelt.

Auf der anderen Seite der Mensa sind zwei Jugendliche auf die Holztische gestiegen, klettern dann aber doch schnell wieder herunter. Sie gehören zu einer Gruppe von Flüchtlingen, die sich am Wochenende hier treffen. 16 und 17 Jahre alt sind sie, sogenannte unbegleitete Flüchtlinge, die ohne Eltern in Mar­burg gestrandet sind. Nun lernen sie deutsch in der Adolf-Reichwein-Schule: "Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, ich bin sehr gut in der Schule", ver­sichert der eine: "Aber jetzt ist Wochenende. Jetzt will ich ein bisschen chillen." Und er versucht zu erklären, dass es ganz unterschiedliche Flüchtlinge gibt: "Es gibt Flüchtlinge, die machen Scheiße, und Flüchtlinge, die lernen", sagt er: "Es gibt Deutsche, die machen Scheiße, und es gibt Deutsche, die lernen." Unter­dessen beklagt sein Kumpel, dass die Polizei immer nur die ausländisch aus­sehenden Jugendlichen kontrolliere: "Ich finde das unfair", sagt der 16-Jährige.

Auf dem Rasen steht ein Dutzend Studierende beisammen, die mit Taschen voller Chips, Süßigkeiten und Bier feiern. Drei Tische weiter haben sich drei deutsche Studenten niedergelassen, Musik aufgedreht, Orangensaft, Sprite und Wodka vor sich: "Hier ist ziemlich viel Party, aber gefährlich ist es nicht", sagt ein 20-Jähriger. Auch die Gymnasiastinnen, die sich auf den Lahnterrassen treffen, um weiter in die Oberstadt zu ziehen, sehen kein Problem in den fremd aussehenden Altersgenossen: "Die hören ihre Musik, tanzen und lassen einen in Ruhe", sagt eine 17-Jährige: "Ich bin noch nie doof angemacht worden." Und eine Studentin erinnert daran, dass sich auch deutsche Jugendliche prügeln.

Die meisten wissen, dass auf dem Areal direkt an der Mensa um 23 Uhr die "Security" kommt, wie sie das hier nennen. Dann werden die letzten Gäste von den Tischen vertrieben. In der Nacht patrouilliert der Sicherheitsdienst noch einmal, berichtet die Sprecherin des Studentenwerks, Franziska Busch. Intern haben sie sogar schon darüber diskutiert, einen Zaun um das Mensa-Gelände zu ziehen. Eine Videoüberwachung gibt es schon.

Für die 2009 eingerichteten Lahnterrassen ist die Stadt zuständig, deren Ordnungs­kräfte ebenfalls mehrmals in der Woche vorbeikommen, dazu noch ein privater Sicherheitsdienst in der Nacht. Noch vor der nächsten Sommer­saison sollen hellere und mehr Lampen im Marktdreieck installiert werden. Zudem hofft Ordnungsdezernent Stötzel auf ein Alkohol-Verkaufsverbot am Marktdreieck: "Wir wollen, dass man sich ab einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr für wenig Geld vor Ort mit hartem Alkohol eindecken kann." Vor acht Jahren haben sich die Supermärkte freiwillig darauf eingelassen, nach 20 Uhr keinen Alkohol mehr zu verkaufen. Jetzt muss es über die Landesgesetzgebung gehen. Eine entsprechende Initiative hat die Stadtverordnetenversammlung Ende September gestartet. Das kann aber dauern.

Bislang holen sich nämlich auch die Minderjährigen problemlos Nachschub im benachbarten Einkaufsmarkt, wo in der Zeit von 20 bis 24 Uhr unübersehbare Mengen an Bier, Sekt und Schnaps über das Förderband gehen. Und die Teenies wissen genau, wer von ihnen Hochprozentiges einkaufen darf.

Denkbar ist zudem ein Alkoholverbot für die öffentlichen Straßen und Plätze in diesem Areal. Damit hatte die Stadt vor zehn Jahren zumindest eine Zeitlang Erfolg. Damals war Marburg die erste Kommune Hessens, die ein relativ groß­flächiges Alkoholverbot verhängte. Die Jugendlichen an den Lahnterrassen finden beide Ideen "völlig daneben".

Die Geschäftsleute am Marktdreieck beklagen sich indes weniger als vor zehn Jahren. "Da wird viel aufgebauscht", versichert der Wirt eines Restaurants. Vor Jahren sei einmal ein Stein in sein Fenster geworfen worden. Das seien aber Burschis gewesen, erzählt er.

"Es hat sich von der Passage wegverlagert", berichtet Kinobetreiberin Marion Closmann. Eigentlich lade jetzt die gesamte Lahn dazu ein, sich draußen zu treffen: "Das ist eigentlich total schön", sagt sie. Aber vielleicht müsse man das Konzept noch weiterentwickeln. Auch der Barmann aus der benachbarten Kneipe gibt sich gelassen: "So schlimm wie es manchmal dargestellt wird, ist es nicht", sagt er. Und eine offene Drogenszene gebe auch nicht.

Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Polizei, die mehrmals pro Woche in Uniform und Zivil in dem Gebiet Streife läuft: "Die tatsächlichen Vorkommnisse decken sich nicht mit den subjektiven Eindrücken vieler Menschen", formuliert Polizeisprecher Martin Ahlich. Natürlich gebe es Straftaten in diesem Bereich: "Wo sich viele Menschen treffen, passiert auch mehr." Als Krimi­na­li­täts­schwer­punkt würde er die Ecke aber nicht bezeichnen.

Nirgendwo gehe die Polizei so oft auf Streife wie im Bereich Marktdreieck und Oberstadt. Zudem seien die "normalen Marburger Bürger" in den "aller­sel­tens­ten Fällen" Opfer gewesen. Ahlich ist überzeugt: "Man muss keine Angst haben, wenn man durch Marburg geht."

Gesa Coordes

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