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Thema der Woche | 24. Mai 2018

Zoff um die Postkartenidylle

Bürgerinitiative Grüner Wehr – Foto: Coordes

Im Sommer sitzt Frank Harries fast jeden Abend am Ufer des Grüner Wehrs und beobachtet den Reiher, der kleine Fische aus der Lahn zieht. Das beliebte Post­karten­motiv mit dem Landgrafenschloss im Hintergrund lockt auch viele Studierende, Familien und Pärchen, die hier chillen, grillen und plantschen. Jogger, Radler und Spaziergänger bevölkern den angrenzenden Trojedamm.

Doch die Idylle ist nach Einschätzung der Menschen aus dem Stadtteil Weiden­hausen durch die geplante Sanierung des jahrhundertealten Wasserbauwerks bedroht. Sie fürchten eine neue Partymeile, die Fällung der alten Linden und die Zerstörung der historischen Anlage mit der Aue.

Vor einem Monat haben sie die Bürgerinitiative "Grüner Wehr" gegründet. Der Ortsbeirat Weidenhausen geht zwar schon etwas länger gegen die geplante Sanierung vor. Doch das Gremium ist den Bürgerinitiativlern zu langsam, zu politisch und zu unflexibel. Dagegen tagt die BI "Grüner Wehr" jede Woche. Ihre Resolution wurde bereits 600mal unterzeichnet.

Das Ziel: Eine schonende und denkmalgerechte Sanierung des Wehrs – ohne Kanurutsche und Betonpodeste, mit einer Fischtreppe, die nur minimalistisch integriert wird. "Das ist zusammen mit dem Northampton-Park das zentrale Naherholungsgebiet für die Weidenhäuser", erklärt Frank Harries, der gemein­sam mit Sebastian Teusch Sprecher der neuen Bürgerinitiative ist. Die Gruppe hat bereits jetzt 40 Mitglieder.

Erste Erfolge hat die BI schon erzielt, nachdem die Weidenhäuser zunächst "fast vor vollendete Tatsachen gestellt" worden seien, wie Teusch formuliert. Angesichts der hitzigen Diskussion ist am kommenden Wochenende ein Bürgerworkshop geplant. Zudem hat die Stadt bereits Kompromissbereitschaft bei der Kanurutsche und beim Betonpodest signalisiert.

Zufrieden sind die Aktiven gleichwohl nicht. Sie wollen eine "wirkliche Neu­pla­nung mit Bürgerbeteiligung". So zweifeln sie daran, dass das Wehr so marode ist, dass es tatsächlich abgerissen und neu gebaut werden muss. Die Stadt hat deshalb das bereits 2008 erstellte Gutachten ins Netz gestellt. Danach kommt aufgrund der vielfältigen Mängel "nur ein Neubau in Betracht". Dagegen schreibt die BI, dass bislang nicht ausreichend geprüft worden sei, welche Sanierungsmöglichkeiten bestehen, um das Erscheinungsbild des Bauwerks zu erhalten. Nach ihrer Einschätzung sind die Mängel "kein zwingender Grund", die Wehranlage abzureißen.

Nach den Plänen der Stadt soll das Wehr nach der Sanierung aber – abgesehen von der neuen Fischtreppe – zumindest äußerlich annähernd so aussehen wie vorher. Innen ist allerdings ein Stahlbetonkern anstelle der bisherigen Kon­struk­tion aus Holz, Beton und Steinen geplant. Dass über die Frage, ob nicht auch eine Reparatur des Wehrs reicht, nicht mehr diskutiert werden soll, können die Aktiven nicht verstehen: "Sonst könnte man ja auch das Schloss abreißen, um es dann wieder neu zu bauen, sagt Teusch.

Von der Europäischen Union vorgeschrieben ist der Bau einer Fischtreppe. Es handelt sich um einen sogenannten Borstenfischpass, der an der Seite zum Trojedamm gebaut werden soll. Die Bürgerinitiative wünscht sich jedoch eine "minimalistische" Fischtreppe, am besten an der anderen Seite des Wehrs. Das Projekt Kanutreppe ist den Weidenhäusern ohnehin unverständlich. Das Wasser sei im Sommer oft zu flach für Kanuten.

Scharfe Kritik erntet auch das geplante Wartungs- und Aussichtspodest, das sich über eine Länge von 60 Metern an der Seite des Trojedamms ziehen soll. "Sind das die Lahnterrassen 2.0?", fragen sie. "Die Betonpodeste verschandeln nicht nur das schönste barrierefreie Naherholungsgebiet im Zentrum von Marburg, sondern errichten neben den nahe gelegenen Lahnterrassen eine weitere Problemzone als nächtliche Partymeile", schreiben sie in ihrer Reso­lution. Dabei gebe es bereits jetzt öfter Ärger um die Spontanpartys, die auf dem nahe gelegenen Anlegersteg der DLRG gefeiert werden.

Besonders bitter stößt ihnen der Weg der Baustellenfahrzeuge auf. Nach der bisherigen Planung verläuft die Zufahrt nämlich durch die Aue zwischen Hirse­feldsteg und Wehr. Ausgerechnet an dieser Stelle liegt das romantische Insel­chen mit dem urigen Bewuchs, das Verliebte und Badende anlockt. Neben dem Reiher – ein Stammgast – wurden auch schon Eisvögel und Wasseramseln hier gesichtet. Zudem verschwinde dadurch ein Laichplatz für Fische. "Diese Insel mit den Bäumen ist nicht künstlich zu erzeugen. Das ist ein gewachsenes Stück Natur", sagt Harries.

Wie viele Bäume für das Projekt fallen müssen, ist noch unklar: Sechs Linden der Halballee am Trojedamm sind es nach den bisherigen Plänen der Stadt. Die Bürgerinitiative spricht von einem Dutzend.

"Wir möchten wissen, ob es nicht doch noch Alternativen und andere Tech­niken gibt und wir möchten so wenig Beton wie möglich", sagt Frank Harries. Deswegen wollen sie während des geplanten Bürgerworkshops, den sie nur als Auftakt begreifen, noch einmal ganz grundsätzlich ohne jede Vorgabe disku­tieren. Teusch: "An diesem Projekt messen wir die Ernsthaftigkeit des Bürger­beteiligungs­prozesses."

Kanurutsche und Betonpodest sind "Kür"

Die hitzige Diskussion um das Grüner Wehr hat den seit 2017 amtierenden Bürgermeister und Baudezernenten Wieland Stötzel (CDU) überrascht. Im Gespräch mit dem Express kommentiert er Fragen und Kritikpunkte.

Die BI kritisiert, bei der Planung "fast vor vollendete Tatsachen gestellt" worden zu sein

"Unfug", sagt Wieland Stötzel dazu. Informationsveranstaltungen für die Bürger seien ohnehin für die zweite Jahreshälfte 2018 geplant gewesen. Vor Sommer 2020 werde auch sowieso nichts am Wehr passieren, weil erst die Arbeiten an der Weidenhäuser Brücke abgeschlossen werden müssen. Der Ge­nehmigungs­prozess habe noch nicht begonnen.

Muss das Wehr tatsächlich abgerissen und neu errichtet werden?

Das Gutachten ist da nach Einschätzung von Bürgermeister Stötzel sehr klar. Eine Reparatur des Wehrs reiche nicht aus. Den Vergleich mit überirdischen Denkmälern wie dem Schloss versteht er allerdings nicht: "Das ist doch ein Wasserbauwerk, das zu 99 Prozent unter Wasser steht. Man sieht es also gar nicht", sagt er. Zudem würden die oben sichtbaren Sandsteinblöcke gereinigt und – so weit möglich – wieder verwendet.

Kann man auf Betonpodest und Kanurutsche verzichten?

Sowohl die Kanurutsche als auch die Wartungs- und Aussichtsplattform seien "Kür", sagt Stötzel: "Das kann man weglassen." Allerdings befindet sich die Kanurutsche auf der Fischtreppe, die dadurch nicht schmaler wird. Optisch ändere sich durch den Verzicht auf die Kanurutsche relativ wenig. Es werde auch kaum billiger.

Die BI möchte nur eine minimalistische Fischtreppe

Schwierig, sagt Stötzel. "Auch vom Stadtbild her" sei die Fischtreppe an der Seite zum Trojedamm am besten aufgehoben.

Die BI möchte die geplante Baustraße verhindern, die über den Auen­bereich mit dem Inselchen führen würde.

"Irgendwie muss man an das Wehr drankommen und die Möglichkeiten sind da relativ begrenzt", sagt der Bürgermeister dazu. Die Zufahrt werde aber als Schot­ter­straße gebaut und vollständig zurückgebaut.

Wie geht es weiter?

Die endgültige Planung ist noch nicht beschlossen. Die Stadt will jetzt erst einmal das Ergebnis des Bürgerworkshops abwarten. Wenn die Planung steht, muss die Sanierung vom Regierungspräsidium Gießen genehmigt werden. In diesem Zuge ist noch einmal eine Bürgerbeteiligung vorgesehen.

Wie viel kostet die Sanierung nach dem bisherigen Plan?

3,5 Millionen Euro, wenn auch die Kanurutsche und das Betonpodest gebaut werden. Dafür gibt es Fördergelder in Höhe von rund 1,5 Millionen. Ohne Kanu­rutsche und Betonpodest werde das Bauwerk nur wenig günstiger, sagt Stötzel.

Wehr speiste einst Mühlen
Der Name des Grüner Wehrs geht auf die nahegelegene Straße "Am Grün" und die "Grüner Mühle" zurück, eine ehemals als Ölmühle genutzte Wassermühle am Rand des heutigen Südviertels. Die Mühle wurde 1248 erstmals urkundlich erwähnt. Heute ist das Mühlenrad zwar noch vorhanden, aber schon Jahrzehnte nicht mehr in Betrieb. In dem Gebäude befindet sich heute die Gaststätte "Havanna". Auf der anderen Seite der Lahn wurde die Hirsemühle gespeist. Daran erinnert eine Mühle im Zwergenformat im Garten des Gebäudes.
Wann das 73 Meter lange Grüner Wehr entstanden ist, ist unklar. Seine Ursprünge gehen möglicherweise auf die Renaissance (1553) zurück. Sicher ist, dass die Lahn an der Wehranlage seit mehr als 100 Jahren aufgestaut wird. Die letzte General­überholung erfolgte während des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Seitdem gab es immer wieder Diskussionen und dringliche Sanierungsempfehlungen, aber nur kleinere Reparaturen. Die Lahn muss auf jeden Fall weiterhin an dieser Stelle gestaut werden, weil sonst die angrenzenden Häuser gefährdet sind.
Workshop zum "Grüner Wehr"
Kritik, Anregungen und Bedenken zur geplanten Gestaltung und Sanierung des Grüner Wehrs können Interessierte während eines Bürgerworkshops vorbringen, zu dem die Stadt Marburg am 26. Mai einlädt. In der Zeit von 9 bis 12 Uhr bietet die Veranstaltung in den Kaufmännischen Schulen in vier Arbeitsgruppen Raum für detaillierte Informationen und Diskussionen. Dazu gehören die Bereiche Denkmal­schutz, Natur- und Gewässerschutz, Wirtschaft und Tourismus sowie Sicherheit, Ordnung und Naherholung. Neben Experten soll ein visuelles Modell des sanierten Wehrs vorgestellt werden. Gesprochen wird auch über die Frage der Kanurutsche. Für den Workshop ist keine Anmeldung erforderlich. Jeder kann kommen.

Gesa Coordes

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