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Thema der Woche | 26. März 2020

"Vollbremsung mit Ansage"

Schulleiter Eugen Anderer zur Situation an der Musikschule Marburg
Foto: Pixabay

EXPRESS: Seit Mittwoch, 18.3., ist die Musikschule Marburg geschlossen. Wie ist die Corona-Krise bei euch angekommen?

Eugen Anderer: Wie eine Art Vollbremsung mit Ansage: In der Woche davor wurden bereits alle Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Personen abgesagt. Davon war auch einer unserer Kollegen betroffen, der mit dem HR-Sinfonieorchester die Musik für Saiteninstrumente von Bela Bartok aufführen wollte. Am Freitag kam dann die Entscheidung der Landesregierung, ab der kommenden Woche Schulen und Kitas zu schließen. Da war dann klar, dass wir als Betrieb mit mehr als2.000 Schülerinnen und Schülern und fast 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über kurz oder lang auch schließen müssen. Es galt jetzt, die aufkommenden Sorgen der Kolleginnen und Kollegen hinsichtlich einer mögliche Infektion aber auch wegen ihrer finanziellen Zukunft ernst zu nehmen und der Lage entsprechend zu reagieren.

EXPRESS: Übers Wochenende hast du dann mit dem Schulvorstand und dem Betriebsrat viel telefoniert und gemailt ...

Eugen Anderer: Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dem Gesundheitsamt schriftlich unsere Situation zu schildern und um eine klare Stellungnahme zu bitten. Ich habe in dem Schreiben vor allem unsere beengte Raumsituation beschrieben und die Tatsache, dass unsere Schülerinnen und Schüler von überall aus dem Landkreis herkommen und dass wir große Gruppen in kleinen Kindern unterrichten sowie Menschen im fortgeschrittenen Alter. Das Schreiben ging ebenfalls an Stadt und Landkreis.

Gleichzeitig haben wir beschlossen, unseren Lehrerinnen und Lehrern ein kurzes Rundschreiben zu senden, das sie ihrerseits an Eltern und Schülerinnen weiterleiten sollten. Darin baten wir sie, freiwillig in den kommenden drei Tagen auf Unterricht zu verzichten. Dies wurde auch mit großem Verständnis aufgenommen. So hatten wir für eine endgültige Entscheidung Zeit gewonnen. Größere Gruppen in der musikalischen Früherziehung sowie Ensemble- und Chorunterricht haben wir vorsichtshalber gleich abgesagt. Gleichzeitig teilte uns das Schulamt am Montag mit, dass Schulen und Kitas geschlossen seien und uns die Räume dort für die Zeit bis nach Ostern nicht zur Verfügung stünden.

Nach den Absprachen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten am Dienstag, 17. März, in der Musikschulen als zu schließende Einrichtungen ausdrücklich genannt wurden, kam ja dann auch schnell die Anordnung des Landes Hessen. Seit Mittwoch, 18. März haben wir offiziell zu.

EXPRESS: Wie ist die momentane Lage?

Eugen Anderer: Wie auf einem Schiff, dessen Mannschaft in Zwangsurlaub an Land geschickt wurde. So fühlt es sich jedenfalls an, wenn ich im Büro bin und die Musikschule nicht wie gewohnt summt und brummt: Keine dröhnende Tuba, kein Wummern aus den Bandräumen, keine jubelnden Querflöten, Klarinetten oder Geigen und auch keine Gespräche auf dem Flur. Trotzdem hat das Büroteam viel zu tun, da es immer wieder Anfragen von Eltern und der Lehrerschaft gibt. Es geht dann vor allem darum, wie der Unterricht in dieser schwierigen Lage fortgesetzt werden kann.

EXPRESS: Was hat das für Konsequenzen für die Lehrkräfte?

Eugen Anderer: Zunächst einmal sind die Lehrerinnen und Lehrer angewiesen, keinen Präsenzunterricht mehr zu erteilen. Das ist für uns alle eine große Herausforderung, lebt doch der Musikunterricht nachgerade vom gemeinsamen Arbeiten. Der ganze Vorgang des Musizierens und des Vermittelns von Fertigkeiten auf dem Instrument oder das Lernen, die Stimme beim Gesang kontrolliert einzusetzen, sind eigentlich an physische Präsenz gebunden. Da fällt es zunächst schwer, das Gewohnte zu verlassen und Alternativen zu entwickeln. Deswegen haben wir Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern und Schülerschaft in weiteren Rundschreiben darum gebeten, aufeinander zuzugehen und andere Formen des Unterrichts auszuprobieren. Das hat nach einer Woche Ausnahmesituation, die es ja zweifellos für uns alle ist, dazu geführt, dass sich bereits eine ganze Palette von alternativen Konzepten zu etablieren beginnt.

EXPRESS: Es gibt also alternative Unterrichtskonzepte für die Dauer der Schließung? Wie sehen diese aus?

Eugen Anderer: Ja, die gibt es. Und das freut mich besonders, dass da meine Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Tagen so viel geleistet haben: Ein Gitarrist berichtet beispielsweise davon, dass bei ihm der komplette Unterricht schon auf Skype umgestellt ist. Er hatte allerdings, wie er mir erzählte, bereits Vorerfahrung mit Studenten, die ein Auslandssemester absolviert haben und die bei ihm einfach weiter Stunden nehmen wollten. Eine Klavierlehrerin berichtet, dass sie Aufgaben in Theorie per Mail versendet und in den Sommerferien Workshops zu Spezialthemen anbieten möchte. Ein Bläser wiederum stellt Übeprogramme zusammen, versendet sie per Mail und betreut seine Schüler telefonisch. Wieder ein anderer nimmt Lernvideos auf, die er dann den Schülerinnen und Schülern auf den jeweiligen Plattformen zur Verfügung stellt.

Auch in der musikalischen Früherziehung arbeiten die Lehrerinnen und Lehrer an kleinen Übeaufgaben, die Kinder mit ihren Eltern gemeinsam machen können. Es tut sich da sehr viel. Und, so berichten viele: Den Schülerinnen und Schülern macht es großen Spaß.

EXPRESS: Wie stellt sich die Unterrichtssituation für die Schüler dar?

Eugen Anderer: Wie gesagt: Alle haben großes Verständnis für diese Ausnahmesituation und arbeiten an Lösungen gerne mit. Man muss sich halt mal vorstellen: Die Familien sind jetzt zusammen, Eltern gehen nicht zur Arbeit, Kinder langweilen sich und drehen am Rad. Da kommen wir mit unserem Angebot gerade recht. Wir sehen uns schließlich auch in der Verantwortung, eine kontinuierliche Beziehung zu unseren Schülerinnen und Schülern gerade in so einer Krisenzeit wann immer möglich aufrecht zu erhalten. Und da ist jede Form recht.

EXPRESS: Die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Schulen liegt zur Zeit auch auf Eis ...?

Eugen Anderer: Ja, die Schulen sind seit dem 16. März dicht. Wir können da nicht mehr rein. Es wäre unverantwortlich, Registerunterricht zu erteilen, wenn sonst keine Schule mehr stattfindet. Im Hinblick darauf, dass die Krise auch nach den Osterferien einen normalen Unterricht unmöglich machen könnte, werden wir in den kommenden Tagen überlegen, wie wir auch für die Schulkooperationen einen Ersatzunterricht leisten können.

EXPRESS: Welche Szenarien sind für die Zeit nach der Corona-Krise denkbar?

Eugen Anderer: Tja, wer weiß das schon so genau? Ich gehe mal davon aus, dass wir zur Normalität, also zu unserem Konzept des Präsenzunterrichts zurückkehren werden. Wir Menschen sind soziale Wesen, und das Zusammensein und zusammen Arbeiten ist uns tief ins Genom eingeschrieben. Musik ist eine unserer Kulturleistungen, die dies besonders schön zum Ausdruck bringt. Dennoch werden sich sicher in unserem traditionellen Unterricht künftig mehr digitale Formate wie Play alongs, Lernvideos, Nutzung von Online-Notenbibliotheken und Vieles mehr finden. Auch wird es künftig bei Glatteis oder wenn sich Schüler "Übermut" beim Sport den Fuß verstaucht hat, öfter Videochats neben dem normalen Unterricht geben. Insgesamt glaube ich, dass sich das Interesse für digitale Musikproduktion mehren wird. Vielleicht käme dann am Ende sogar nach der Krise eine digitale Musikklasse heraus.

EXPRESS: Bitte eine Einschätzung der mittelfristigen Auswirkungen auf das kulturelle Leben in Marburg ...

Eugen Anderer: Da fehlt mir die Kristallkugel. Klar ist, dass es für viele im Kulturbereich selbstständig Tätige angesichts der Corona-Krise ums Existienzielle geht. Auch wir in der Musikschule müssen befürchten, dass bei längerer Dauer dieses Ausnahmezustandes unsere finanziellen Reserven nicht ausreichen werden, zumindest dann nicht, wenn wir mit größeren Rückforderungen unserer Kundschaft konfrontiert werden. Ich möchte mich aber an dieser Stelle ganz herzlich für die Solidarität und das Verständnis von Eltern sowie Schülerinnen und Schülern bedanken, die uns in dieser Zeit die Treue halten und mit uns gemeinsam konstruktive Lösungen suchen.

Außerdem beruhigt mich, dass die Stadt Marburg signalisiert hat, uns im Falle von Liquiditätsproblemen zu unterstützen. Zusätzlich gibt es auch eine ganze Reihe von Hilfsangeboten von Bund und Ländern, die bereits im Netz angefragt werden können.

Wie wir aus dieser Krise heraus kommen, wird vor allem davon abhängen, welche Ausmaße sie annimmt und wie lange sie dauern wird.

Interview: Michael Arlt

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