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Thema der Woche | 17. September 2020

"Zum Spielen gibt es keine Alternative"

Das Theater neben dem Turm – Foto: TnT

Im TNT, dem roten Würfel auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks im Norden Marburgs, wird Theater abseits des Mainstreams gepflegt. Das Ensemble mit seinen unkonventionellen Produktionen ist seit 1983 fester Baustein im Kulturleben vor Ort.

EXPRESS: Wie kommt das TNT bis jetzt durch die Pandemie?

Rolf Michenfelder: Da wir gerade einen ganzen Monat Programm gemacht haben, neige ich dazu zu sagen "gut", natürlich mit mindestens fünf Mal "aber" dahinter.

Siggi Ulm: Es wirkt schon noch nach, dass wir im März das Bühnenbild bereits aufgebaut hatten, nur um es dann wieder abzubauen und das Theater abzuschließen.

Katrin Hylla: Nach einer Schockstarre wie sie sicherlich viele erlebt haben und der großen Frage, ob wir jemals wieder vor einem vollen Saal mit Publikum spielen werden, kam eine Phase der Papierschlachten: Welches Hilfspaket wird wie beantragt? Das war dann auch die Phase, wo wir immer wieder wütend oder frustriert waren, weil keines der Hilfspakete bei uns ankam.

Rolf Michenfelder: Wichtig war einfach, wieder zur künstlerischen Arbeit zurück zu finden. Wir haben uns gefragt, was tun, wenn unser Theaterraum uns plötzlich den Zugang verwehrt, der uns bisher immer so selbstverständlich erschien? Was tun, wenn wir die Dinge nicht mehr so berühren dürfen, wie wir es gewohnt waren, wenn die Nähe zwischen Menschen durch Abstandsregeln bestimmt wird? Auf was können wir verzichten und dadurch eventuell Neues entdecken und auf was können und wollen wir nicht verzichten?

Charlotte Bösling: So ist dann ja auch unser Projekt "Nearly close enough to kiss" entstanden, das in dem leer stehenden Reisebüro in der Wettergasse stattfand. Als Intervention im öffentlichen Raum. Und als eine Hommage an das Unverzichtbare, an lebendige menschliche Begegnungen, an Nähe und Intimität, an gemeinsame Anwesenheit, an Live-Erlebnisse.

Rolf Michenfelder: Ja, es war einfach toll, etwas künstlerisch herzustellen, was Corona angeblich verhindert. Nähe und soziales Leben.

EXPRESS: Wie ist das Theater aktuell aufgestellt – personell, finanziell, mental?

Rolf Michenfelder: Wir sind im Kernteam zu fünft: Katrin Hylla, Kristin Gerwien, Charlotte Bösling, Siggi Ulm und Rolf Michenfelder. Und finanziell sind wir ja schon immer nahe am Abgrund, daran hat sich nicht viel geändert, außer dass es jetzt noch ein bisschen näher ist. Aber die Stadt lässt ja dankenswerterweise die Förderung weiter laufen, das hilft schon mal viel, auch wenn durch Absagen ganz viel weg gebrochen ist.

Katrin Hylla: Grundsätzlich wünschen wir uns natürlich eine angemessene Bezahlung für den Fulltimejob, den wir machen, aber das ist Kulturpolitik, daran muss noch gearbeitet werden.

Charlotte Bösling: Ach ja, mental. Wenn man zwei spannende und erfolgreiche Projekte gerade hinter sich hat, dann würde ich sagen, wir haben uns aus fast allen tiefen Tälern heraus gearbeitet. Wir haben Lust auf mehr spannende Projekte!

Katrin Hylla: Es hat sehr gut getan, zu erfahren und auch das Publikum erfahren zu lassen, was auch unter den gegebenen Umständen alles möglich ist. Und nicht darauf zu schauen, was alles nicht möglich ist.

EXPRESS: Die momentanen Gegebenheiten beeinflussen sicherlich auch die ganz konkreten täglichen Routinen ...

Charlotte Bösling: Ja klar, wir haben uns weniger live gesehen, stattdessen viel auf Bildschirmen. Und live sitzen wir weiter auseinander, was schade ist. Aber wir konnten trotzdem gut miteinander arbeiten.

EXPRESS: Welche Produktionen habt ihr am Start?

Rolf Michenfelder: Wir kommen ja gerade aus zwei Projekten, die ganz toll gelaufen sind. Einmal unsere Audiotour "Ich weiß etwas von dir, was du nicht mehr weißt" und dann eben "Nearly close enough to kiss".

Siggi Ulm: Parallel dazu haben Katrin und Kristin gemeinsam mit Ida Daniel angefangen, mit Kindern an einem Stück zu arbeiten, dem "Mushroom"-Projekt.

Charlotte Bösling: Und für Ende Oktober planen wir die dritte Ausgabe unseres Festivals FÜR DICH FÜR DICH FÜR DICH. Wir haben zu Beginn der Krise eine Ausschreibung gemacht, haben 140 Bewerbungen erhalten und daraus sechs Produktionsaufträge vergeben.

Katrin Hylla: Wir hatten keine thematische Vorgabe gemacht, sondern gesagt, bitte bewerbt euch mit einem Konzept über etwas, das euch am Herzen liegt oder unter den Nägeln brennt. Die sechs Performances dauern jeweils eine halbe Stunde. Das Festival wird ergänzt durch einen Künstlerinnen- und Künstler-Kongress zu den Themen Generationswechsel und Produktions­bedingungen.

Siggi Ulm: Im Dezember können die Zuschauerinnen und Zuschauer dann hoffentlich erleben, was bei der abgesagten Fußball-EM wahrscheinlich nicht passiert wäre, nämlich "Wir im Finale".

Rolf Michenfelder: Natürlich wie immer gegen einen übermächtigen Gegner.

Charlotte Bösling: Also langweilig wird uns definitiv nicht! (lacht)

EXPRESS: Wie bereitet sich das TNT auf die kommende Indoor-Saison vor?

Katrin Hylla: Wir müssen anbauen! Wir müssen die Stadt auffordern, das TNT räumlich zu verdoppeln, damit wir die Zuschauerinnen und Zuschauer besser verteilen können.

Charlotte Bösling: Naja, wir müssen natürlich stimmige Hygienekonzepte entwickeln, damit die Vorstellungen überhaupt stattfinden dürfen. Aber vor allem denken wir darüber nach, wie es je nach Produktion und Thema auch für weniger Zuschauerinnen und Zuschauer spannend und bereichernd sein kann.

Rolf Michenfelder: Es ist nicht unser Ansatz zu sagen "leider dürfen wir nur 20 Leute ins Theater lassen", sondern wir überlegen uns lieber, was wir Tolles für 20 Leute machen können. Natürlich rechnet sich das finanziell nicht, aber diese Frage muss man vielleicht mal eine Weile zur Seite stellen.

Siggi Ulm: Wir haben ja auch ganz bewusst alle 64 Veranstaltungen bei "Nearly close enough to kiss" verschenkt, obwohl es uns viel Geld gekostet hat.

EXPRESS: Auf welche Weise setzt ihr euch mit dem Virus künstlerisch auseinander?

Rolf Michenfelder: Indem wir versuchen, Formate zu entwickeln, die nicht als Mangelverwaltung daher kommen. Manchmal entdeckt man ja auch Mög­lich­keiten, auf die wir ohne die Einschränkungen gar nicht gekommen wären und die sich dann als großartig erweisen.

Katrin Hylla: Oje, wenn sich jetzt alle künstlerisch mit dem Virus aus­ein­an­der­setzen, also nicht nur formal, sondern auch inhaltlich, dann wird das aber eine langweilige Saison. Es gibt wirklich noch genug anderes, um das wir uns scheren sollten.

EXPRESS: Traditionelle Darstellungsformen habe es momentan schwer, niemand sitzt gerne in einem leeren Saal. Ihr wart da ja schon immer etwas spezieller ...

Rolf Michenfelder: Oh danke. Wir werden auf jeden Fall auch spezieller bleiben. Deshalb bereiten wir uns auch nicht nur auf die Indoor-Saison vor. Unser Projekt "Are you lonesome tonight", das wir zusammen mit dem Fachdienst Kultur und dem Studentenwerk planen, wird im gesamten Studentendorf spielen. Es sollte eigentlich dieses Jahr schon stattfinden, aber da hat Corona uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Charlotte Bösling: Dabei müssen wir natürlich die möglichen Einschränkungen mitdenken. Bestimmte Ideen wie 15 Zuschauerinnen und Zuschauer in ein kleines Zimmer zu führen, werden nicht möglich sein. Das ist auf der einen Seite schade, aber es kann ja auch aufregend sein, sich von lieb gewordenen Vorstellungen trennen zu müssen und dadurch Neues zu entdecken.

Rolf Michenfelder: War das nicht Billy Wilder, der gesagt hat "Kill your darlings"?

EXPRESS: Wird nun alles anders? Wo liegen Alternativen zu streamen und spielen?

Siggi Ulm: Wird nicht immer alles anders? Es gibt doch diese Postkarte "Nichts bleibt wie es wird".

Rolf Michenfelder: Streamen ist sowieso nicht unser Ding. Wir hätten auch gar nicht die Mittel, um das qualitativ gut zu machen. Und nur zeigen, dass es uns noch gibt, ist uns echt zu wenig. Zum Spielen gibt es allerdings keine Alter­na­tive. Nur das Wie ist dann die Frage. Aber das Wie ist eigentlich jedes Mal die Frage.

Katrin Hylla: Mich stört, dass es exklusiver wird, automatisch. Man muss sich anmelden, Platzkapazität ist beschränkt, das ist nicht gerade niedrigschwellig. Deswegen fand ich unsere Alternative, in der Stadt, ganz nah an den Leuten zu sein, ein super Modell. Es wäre toll, so was länger zu haben, dann könnten wir das ganze Jahr Eins-zu-Eins-Performances machen und andere Formate aus­probieren.

EXPRESS: Gibt es einen Plan für den Fall eines weiteren Lockdowns?

Rolf Michenfelder: Ehrlich gesagt, nein.

Interview: Michael Arlt

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