Verkehrsberuhigung im Schulviertel empört Autofahrerlobby
Zum Schulstart nach den großen Ferien läuft der Verkehr in der Leopold-Lucas-Straße noch chaotischer als sonst: Elterntaxis stehen auf Gehwegen und in Feuerwehrzufahrten. Sie lassen ihre Kinder mitten auf der Fahrbahn heraus, wo zugleich Radfahrer vorbeifahren, wenden verbotenerweise und sorgen für Stau in der enger gewordenen Straße. Dabei hatte Schulleiter Gunnar Merle eigens noch einen Elternbrief verschickt, damit – wenn die Kinder schon nicht mit Bus, Rad oder zu Fuß zur Schule gehen – sie wenigstens weiter entfernt vom Schulviertel oder am Georg-Gassmann-Stadion aussteigen lassen. Jetzt steht der Leiter der Elisabethschule an der Einfahrt hinter dem Gesundheitsamt, um diejenigen zu stoppen, die hier direkt bis zum Schultor durchfahren wollen. „Sie müssten dann auf dem Schulhof wenden“, erklärt er geduldig und schickt sie zurück.
Doch der Reihe nach. Marburg hat mit der Verkehrsführung im Schulviertel ein neues Aufregerthema. Während der Schulferien ist die Leopold-Lucas-Straße zwischen Schwanallee und Bachweg zu einer Fahrradstraße geworden. Die Bauarbeiten sind wegen der Regen- und Hitzetage noch nicht ganz fertig geworden, was aktuell für zusätzlichen Stau sorgt. Das große Ziel ist es aber, die Straße für die Schülerinnen und Schüler sicherer zu machen. Schließlich strömen jeden Morgen mehr als 3000 Kinder und Jugendliche über Bürgersteige und Straßen.
Deshalb wurden die Gehwege verbreitert, Grünflächen angelegt, Parkplätze und eine Abbiegespur abgebaut sowie eine Fahrradstraße eingerichtet. Das bedeutet, dass die Radfahrerinnen und Radfahrer hier Vorrang haben und nebeneinander fahren dürfen. Dadurch sollen Autos nicht mehr überholen können.

Die darauf aufbrausende Kritik hat den Marburger Baudezernenten, Michael Kopatz (Klimaliste), überrascht. Er hatte mit allgemeiner Zustimmung für die Umgestaltung gerechnet. Schließlich wünschen sich Elternbeiräte, Schulleitungen und Schülervertretungen seit Jahren eine Verkehrsberuhigung. Doch weil am Straßeneingang ursprünglich ein „Anlieger frei“-Schild hätte prangen sollen, „ging die Autofahrerlobby hoch“, wie Walter Gruber von der Bürgerinitiative Verkehrswende formuliert. „Mit dem Umbau der Leopold-Lucas-Straße eskaliert die Verkehrspolitik der Stadt Marburg endgültig in Richtung ideologischer Dogmatik. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Schulwegsicherheit wird ein Umbau durchgedrückt, der von repressiver Verkehrsverdrängung, fehlender Bürgerbeteiligung und realitätsferner Planung geprägt ist“, schrieb die Fraktion aus CDU, FDP und Bürgern für Marburg. Die Konservativen forderten einen sofortigen Baustopp.
Dabei steht ein solches Anlieger-Schild seit Jahren unbeanstandet an der zweiten Marburger Fahrradstraße – der Uferstraße. Deswegen war Kopatz ursprünglich davon ausgegangen, dass dies grundsätzlich zu Fahrradstraßen dazugehöre. Nach der öffentlichen Diskussion nahm er die Anlieger-Regelung zurück. Er glaubt, dass bereits die engere Straße, die Vorrang-Regelung für Radler und die weggenommene Abbiegespur in die Bachstraße zu einer Verlangsamung des Verkehrs führen wird.

Doch hinter der Auseinandersetzung steht ein grundsätzlicher Konflikt. Nachdem die Abstimmung um das umstrittene Verkehrskonzept Move 35 im vergangenen Jahr sehr knapp verloren wurde, fühle sich die Autofahrerlobby stark und lehne jede Einschränkung ab, „egal, wie sinnvoll sie ist“, sagt Walter Gruber von der BI. Und auch unabhängig davon, ob sie etwas mit dem Verkehrskonzept zu tun hatte oder nicht. Auch die Grünen kritisieren die „ideologische Doktrin“, nach der „Autos immer freie Fahrt“ haben müssten.
Tatsächlich sieht die Industrie- und Handelskammer in den Veränderungen eine erhebliche Beeinträchtigung des Wirtschaftsverkehrs, die den Standort schwächen werde. „Die faktische Sperrung von Straßen, der Rückbau von Abbiegespuren, die Verkleinerung der Fahrbahn und der Wegfall öffentlicher Stellplätze“ erfülle genau die Kriterien, die im Rahmen des Bürgerentscheids zu Move35 abgelehnt wurden, schreibt sie.
Nachdem die Anwohner-Regelung zurückgenommen wurde, begrüßte die IHK den Kompromiss, forderte aber ebenso wie die konservative Opposition mehr Beteiligung. Die betroffenen Akteure seien vor vollendete Tatsachen gestellt worden, behauptete IHK-Vizepräsident Udo Diehl. Nachvollziehen kann der ehemalige Schulleiter der Kaufmännischen Schulen, Klaus Denfeld, die Kritik nicht. Er attestiert den Wirtschaftsvertretern „politisch motivierte Vergesslichkeit oder Demenz“. Schließlich sei die IHK Mitglied der Schulkonferenz im Schulviertel gewesen. Zudem seien der Verkehr und die Gefährdungspunkte sehr intensiv untersucht worden: „Jetzt wird suggeriert, dass die Stadt damit Teile aus Move 35 umsetzt, dabei war es völlig unabhängig davon.“
In der Tat zerbrechen sich Lehrkräfte, Eltern und Jugendliche schon seit mehr als zehn Jahren den Kopf, um die Schulwege sicherer zu machen. Es gab zwei wissenschaftliche Untersuchungen vor Ort. Die letzte Studie aus dem Jahr 2022 sprach von einem täglichen „Verkehrschaos“. Letzter Anstoss für die Umgestaltung war nun ein erneuter Beschwerdebrief von Eltern und Lehrkräften. Die aktuellen Planungen wurden mit den Schulgemeinden abgestimmt. Die Fahrradstraße wurde auch im Ortsbeirat Ockershausen vorgestellt, der sich gegen die Anliegerregelung wandte. „Wir dulden keine Sperrung in jeglicher Form, weil der Ortskern dadurch sehr belastet wird“, sagt Ortsbeiratsvorsitzender Ludwig Schneider.
Schulleiter Merle, der selbst in Ockershausen wohnt, beobachtete allerdings selbst während der Bauarbeiten – also während der Vollsperrung der Leopold-Lucas-Straße – keine Zunahme des Autoverkehrs im Stadtteil. Er bedauert die Kehrtwende bei der Anlieger-Regelung. „Wenn die Straße für alle freigegeben wird, bin ich mir nicht so sicher, dass die Situation entschärft wird.“ Der Leiter der Elisabethschule berichtet von vielen Beinahe-Unfällen. Zudem verweigere er sich der Argumentation der Gegner, die betonen, dass es bislang noch kaum Unfälle im Schulviertel gegeben habe: „Ein ordentliches Sicherheitskonzept versucht, Unfälle zu verhindern, bevor sie passieren“, so Merle. Die Situation vor Ort sei „augenscheinlich gefährlich“. Das Problem seien dabei aber weniger die Kunden des Einkaufsmarkts oder die Sportler, die auf dem Weg zum Georg-Gassmann-Station dann einen kleinen Umweg hätten fahren müssen, sondern die Elterntaxis.

Deswegen schlägt er vor, die Straße morgens von 7 bis 8 Uhr und mittags von 13 bis 14 Uhr so zu sperren, dass nur noch Menschen mit Berechtigungsscheinen einfahren können – also Busse, Anwohner oder Lehrkräfte, die zu den Lehrerparkplätzen wollen. Das müsste dann vom Ordnungsamt, eventuell mithilfe von Schülerlotsen, kontrolliert werden. „Das finde ich eine interessante Idee“, sagt Baudezernent Kopatz dazu. Er möchte sie nun in der Verkehrs-AG der Stadt zum Thema machen. Der Ortsbeirat Ockershausen wendet sich aber auch gegen diese Idee: „Das ist ja gerade die Stunde, in der der Ortskern auch belastet ist. Das können wir nicht verantworten“, meint Ludwig Schneider.
Kopatz plädiert dafür, zunächst zu beobachten, wie viel Verkehrsberuhigung die Fahrradstraße bringt. Nach seiner Überzeugung ist die aktuelle Verkehrs-Variante schon „ein großer Schritt“ in Richtung der von den Schulen gewünschten Campusstraße. Auch Renate Bastian von den Linken, die ebenfalls in Ockershausen wohnt, ist froh, dass im Schulviertel nun eine Fahrradstraße mit mehr Grün entsteht. Die Anlieger-Regelung sei ohnehin nur eine „leichte Erziehungsmaßnahme“ gewesen, um den Durchgangsverkehr herauszuhalten, „kein Auto-Bann“, wie behauptet worden sei. Und Sarah Kastner von den Grünen fasst zusammen: „In der Leopold-Lucas-Straße geht es um die Frage, ob man bereit ist, für den Schutz tausender Kinder und Jugendlicher, Maßnahmen zu ergreifen, die die Sicherheit auf dem Weg zur Schule erhöht.“
Gesa Coordes
Jedes Jahr ein Unfall mit Verletzten
Ein „Unfallhäufungspunkt“ ist die Leopold-Lucas-Straße nach Auskunft der Polizei nicht. Die Statistik der Beamten weist für den Zeitraum von 2019 bis 2024 insgesamt 45 Unfälle im Schulviertel aus, darunter viele Parkrempler und Unfälle, an denen nur Pkw beteiligt waren.
Dennoch passierten seit 2019 jedes Jahr Unfälle mit Verletzten, unter ihnen auch Kinder und Jugendliche. So wurde am 14. August 2019 um 7.45 Uhr eine – allerdings schon 55 Jahre alte – Radfahrerin von einer Pkw-Fahrerin beim Einbiegen in die Leopold-Lucas-Straße angefahren. An der gleichen Ecke missachtete ein Pkw-Fahrer am 18. November 2021 die Vorfahrt eines 31-jährigen Skateboard-Fahrers, der schwer verletzt wurde. Am 9. Oktober 2021 wurde ein Segway-Fahrer übersehen und von einem Auto touchiert. In diesen drei Fällen waren die Autofahrer die Unfallverursacher.
Nie ermittelt wurde der Pkw-Fahrer, der am 20. Oktober 2022 einen 18-jährigen Schüler auf der Leopold-Lucas-Straße vor der Einmündung zur Schwanallee streifte und verletzte. Zur Unfallzeit um 13.30 Uhr stand eine Traube von Menschen auf dem Bürgersteig. Deshalb wichen Schüler auf dem Weg zur Bushaltestelle auf den Radweg aus, wo der Jugendliche von einem Audi Kombi erfasst wurde.
Am 17. Oktober 2023 wurde morgens kurz vor Schulbeginn eine 19-Jährige leicht verletzt, die beim Überqueren der Fahrbahn nicht auf den Verkehr geachtet hatte und angefahren wurde. Ebenfalls kurz vor Schulbeginn gab es am 19. März 2024 eine Kollision ohne Verletzte zwischen Pkw und Radfahrerin an der Einmündung zur Schwanallee. Kurz nach Schulschluss erwischte es eine 14-jährige Fußgängerin, die am 20. November 2024 die Leopold-Lucas-Straße überquerte, ohne auf den Verkehr zu achten. Sie wurde leicht verletzt.
Ob eine Beruhigung des Verkehrs in der Leopold-Lucas-Straße geboten ist, obliegt nach Auskunft von Polizeisprecher Guido Rehr der Stadt Marburg. Die Polizei sei in diesem Fall nur beratend tätig.