„Willst du mit einem echten Joint proben?“ „Hast du was das so aussieht? Sonst nehm ich die E-Zigarette.“ „Leute, wo sind die ganzen Medikamente? … Ist das alles an Medis?“ Das sind wohl eher untypische Sätze, die bei einer Musicalprobe fallen. Aber „Fast Normal“ ist halt auch kein „typisches Musical“, und schon gar nicht normal. Die Tüte voller Medikamente und Drogen ist natürlich mit Tic Tacs und alten Tablettenpackungen gefüllt und der Joint besteht auch ganz legal nur aus Tabak, aber die Themen, die behandelt werden, sind nicht ohne. Da geht es um Drogen, Trauer, psychische Krankheiten, Liebe, Sex und zerrüttete Familien und Beziehungen.
An sich sei der Stoff im klassischen Sinn eher ungeeignet für ein Musical, meint Regisseur Jens Ravari, aber die außergewöhnliche Thematik „ist ein Beispiel wie ein Musical in Perfektion funktionieren kann.“ Und das tut es wohl, seit der Broadway-Premiere 2009 wurde das Rock-Musical von Brian Yorkey (Libretto) und Tom Kitt (Musik) mit drei Tony-Awards und einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Es geht um die Familienmutter Diana (Felicitas Geipel/Anjuschka Uher), die an einer bipolaren Störung leidet, was Auswirkungen auf die ganze Familie hat. Ihr Ehemann Dan (Sören Flimm/Yannick Bernsdorff) würde ihr gerne helfen, ihrer Tochter Natalie (Karoline Blöcher/Tahira Schäfer) geht es auf die Nerven, dass es immer um die Krankheit ihrer Mutter geht, vergräbt sich in Schularbeit oder trifft sich mit Henry (Joshua Edelsbacher/Jonas Blahowetz). Mit ihrem Sohn (Lukas Sandmann/Nils-Patrik Gombert) hat Diana eine bessere Beziehung und ist sehr auf ihn fixiert.
Vermutlich gibt es in dem Stück kaum eine Personenkonstellation, die problemfrei miteinander kommuniziert. Es gibt Eheprobleme, rebellierende Teenager, Drogen-und Medikamentenmissbrauch und natürlich Dianas problematische geistige Gesundheit, die zunehmend die Familie beeinträchtigt – und dann sind da auch noch Dianas Therapeuten Dr. Madden und Dr. Fine (Yannick Bernsdorff/Mark Daniel Wiedermann), die fragliche Behandlungsmethoden bevorzugen. „Ich fühle nichts mehr“, klagt Diana in einer Therapiesitzung, woraufhin der leicht labil wirkende Arzt lachend und herumspringend konstatiert: „Patient stabil!“ Momente wie diese, gespickt mit etwas absurdem Humor, verdeutlichen den Ernst der Lage und spielen ihn nicht runter. Das Stück schafft es, feinfühlig mit dem Stoff umzugehen, was einen gewissen Drahtseilakt erfordern dürfte. Regisseur Ravari ist es wichtig, diese schwere Thematik auf eine leichte, humorvolle Art zu zeigen, auch um dem Zuschauer einen Zugang zu dem Stück zu bieten.
Bei den Proben zu dem Musical „Fast Normal“ ist es laut, die Stimmung ist konzentriert, die Darsteller sind mit Begeisterung dabei. Im Proberaum ist heiß und alle kommen ziemlich ins Schwitzen. Das hindert aber keinen daran, hundert Prozent zu geben. Sie spielen und singen emotionsgeladen und überzeugend; da fliegt auch mal ein Stuhl durch die Luft. Unter den wachsamen Blicken von Ravari und Choreographin Doris Marlis wird gesungen, gebrüllt, gestritten und geliebt. Die Produktion verfügt über kein hohes Budget, was dem Endprodukt aber nicht abträglich ist: Die Kostüme sind teils von Kostümbildnerin Alona Winter organisiert, teils von den Darstellern selbst mitgebracht. Das Bühnenbild ist auf das Wichtigste reduziert. Besonders schön: Die Band, die die rockigen Lieder spielt, ist in das Bühnenbild integriert und auf der Bühne verteilt.
Das Ensemble ist bunt gemischt: Profis und Laien spielen Seite an Seite, Bühnenerfahrung haben sie aber alle. Manche stammen aus der Region und andere kommen von weiter weg her. Es dauert seine Zeit, so ein Stück auf die Bühne zu bringen. Im Herbst letzten Jahres war das Casting, im Januar begannen die intensiven Proben. Bis zur Premiere wurde in der Regel jedes zweite Wochenende geprobt – Samstag und Sonntag, oft von 9 Uhr morgens bis abends um acht.
Die diesjährige Produktion der Waggonhalle verursachte schon bei den Proben Gänsehaut, da kann bei der Aufführung auf der Bühne gar nichts mehr schiefgehen.
„Fast Normal“
Das Musical „Fast Normal“ feiert am Dienstag, 30. Juli, um 20.00 Uhr in der Waggonhalle in Marburg Premiere (hessische Erstaufführung). Gespielt wird die bisher aufwendigste semi-professionelle Musicalproduktion der Waggonhalle bis zum 20. Oktober.
Das Musical gewann 2009 drei Tony Awards, den „Outer Critics‘ Circle Award“ für herausragende Leistung und wurde 2010 mit dem Pulitzerpreis für Drama ausgezeichnet.
Alle Termine: www.waggonhalle.de
Luise Pfeifle