Tägliches Verkehrschaos gefährdet Kinder und Jugendliche
Jeden Morgen kurz vor Schulbeginn ein ähnliches Bild: Stoßstange an Stoßstange quälen sich Autos und Busse durch die Leopold-Lucas-Straße. Elterntaxis halten vor Zebrastreifen und am Straßenrand, um ihre Kinder herauszulassen. Auf den schmalen Fußgängerwegen strömen so viele Jugendliche zu den Schulen, dass manche auf die Fahrbahn ausweichen. Dazwischen schlängeln sich Fahrradfahrer an haltenden Autos und querenden Fußgängern vorbei, werden aber auch selbst von ungeduldigen Autofahrern überholt. Ein tägliches „Verkehrschaos“ nennt dies eine Studie aus dem Jahr 2022, die von einem Fachbüro des Fachzentrums Schulisches Mobilitätsmanagement des Landes Hessen erstellt wurde.
Seit mehr als zehn Jahren wird darüber diskutiert, gestritten und beraten. Jetzt zeichnet sich zumindest ein erster Schritt zur Verbesserung der Verkehrssicherheit im Schulviertel ab: Die Leopold-Lucas-Straße soll zu einer Fahrradstraße werden: „Ich hoffe, dass wir sie im Frühjahr einrichten können“, sagt der Marburger Verkehrsdezernent Michael Kopatz (Klimaliste). Dann geben Radler die Geschwindigkeit vor und können auch nebeneinander fahren. „Super“, sagt der Vorsitzende des Marburger Kinder- und Jugendparlaments, Lasse Wenzel, dazu. Vor allem die Idee, dass der Radverkehr dann grundsätzlich Vorrang hätte, findet er gut. Der 17-Jährige hat ebenso wie viele seiner Mitschüler schon viele Beinahe-Unfälle im Schulviertel erlebt. „Bei den Autofahrern muss ein Umdenken stattfinden“, sagt Lasse Wenzel. „Sie achten nicht wirklich darauf, ob Schüler gerade auf die andere Straßenseite wollen.“ Besonders gefährlich sei es für Radfahrer, die immer wieder äußerst knapp überholt würden. Und der stressigste Teil ihres Schulweges sei ausgerechnet die Leopold-Lucas-Straße.
Das Kinder- und Jugendparlament hat deshalb einen Antrag an das Stadtparlament gestellt. Sie bitten den Magistrat zu prüfen, wie der Autoverkehr im Schulviertel beruhigt werden kann. Ergänzt wurde der Antrag durch die Fraktion von CDU, FDP und „Bürger für Marburg“. Sie schlägt vor, die Anfangszeiten der Schulen so zu ändern und zu staffeln, dass der Verkehr entzerrt wird.
Dazu ist die Haltung der Betroffenen allerdings ziemlich skeptisch. Über diese Idee sei schon während der Pandemie diskutiert worden – damals, um die Busse zu entlasten -, berichtet der Leiter der Elisabethschule, Gunnar Merle. Das sei aber schon deshalb nicht möglich, weil die Marburger Gymnasien bei einigen Fremdsprachen und Leistungskursen aufeinander abgestimmte Stundenpläne haben, um etwa gemeinsame Leistungskurse in Kunst oder Französisch für Schüler aus allen drei Gymnasien anbieten zu können. Zudem wäre es schwierig, die Buszeiten so anzupassen, dass sich auch die Schüler aus den Dörfern des Umlandes nicht auf längere Schulzeiten einstellen müssten. Dagegen hält er die geplante Fahrradstraße für einen ersten Ansatz. Allerdings müsse man einiges dafür tun, damit die Regeln einer Fahrradstraße unter Autofahrern bekannter werden.
„Vor allen Dingen wollen wir, dass der Hol- und Bringverkehr stark eingeschränkt wird“, sagt Merle. Besonders im Winterhalbjahr, wenn es morgens noch dunkel ist, sei der Schulweg für die Schülerinnen und Schüler „sehr gefährlich“. Jedes Jahr schreibe er an die Eltern mit der Bitte, ihre Kinder mit Bus, Rad oder zu Fuß zur Schule zu schicken – oder sie zumindest weiter entfernt vom Schulviertel herauszulassen. Welche Blüten dies treibt, zeigt sich auch an der Waldorfschule, zu der ein Kindergarten und eine Grundschule gehören. Dort fahren „gar nicht wenige“ bis auf den Schulhof vor, um den Nachwuchs aussteigen zu lassen, berichtet Sonja Sell vom Schulbüro. Das spart Parkgebühren. „Das ist aber ein erhebliches Sicherheitsproblem für die anderen Kinder“, so Sell.
Wie gefährlich der Schulweg für Kinder in Marburg sein kann, weiß auch „Kidical Mass“-Organisatorin Kati Hesselmann. Ihre damals siebenjährige Tochter wurde direkt vor der Brüder-Grimm-Schule überfahren, obwohl sie völlig korrekt bei Grün mit dem Rad über die Kreuzung fuhr. Glücklicherweise zog sie sich keine schweren Verletzungen zu. Heute organisiert Hesselmann zweimal im Jahr die sogenannte Kidical Mass, eine Fahrradtour für Kinder und Jugendliche, die darauf hinweisen wollen, dass die Straßen für den radfahrenden Nachwuchs sicherer werden müssen. Schließlich kennt die sechsfache Mutter viele Eltern, die Angst haben, ihre Kinder mit dem Rad zu Schule fahren zu lassen: „Und was man nicht früh lernt, kommt später nicht mehr so unbedingt“, sagt Kati Hesselmann.
Dabei zerbrechen sich Lehrkräfte, Eltern und Jugendliche schon sehr lange den Kopf über sicherere Schulwege. Bereits vor zehn Jahren wurde ein rund 100-seitiges Konzept zur klimafreundlichen Mobilität am Schulstandort vorgelegt. Viele Ideen gab es schon darin: Spielstraße, breitere Fußwege, mehr Busse, temporäre Sperrung der Leopold-Lucas-Straße, Absetzen der Elterntaxi-Kinder auf dem Georg-Gaßmann-Parkplatz, Einrichtung von Radwegen, Aufgabe der straßenbegleitenden Parkplätze zwischen Bachweg und Schwanallee, bessere Abstellmöglichkeiten für Fahrräder, dazu Verkehrserziehung mit „Schulwegdetektiven“, „Meilen sammeln für die Umwelt“, Pedelec-Testtagen für Lehrkräfte und Radwandertagen.
Seitdem wurde Tempo 30 in der Leopold-Lucas-Straße eingeführt. Grundsätzlich geändert hat sich nach Einschätzung der Betroffenen aber wenig. Es gibt nach wie vor keinen Radweg, nur rot markierte Spuren vor der Ampel zur Schwanallee. „Die Lobby von Schülerinnen und Schülern ist einfach nicht gut genug“, sagt Ute Visser von der Initiative für den Verkehrsversuch in der Leopold-Lucas-Straße, die jahrelang stellvertretende Schulelternbeiratsvorsitzende der Kaufmännischen Schulen war. Fußgänger und Radler hätten in dieser Straße „einfach zu wenig Platz“, sagt sie.
2021 starteten die Kaufmännischen Schulen einen erneuten Anlauf, um die Verkehrsberuhigung in der Leopold-Lucas-Straße voranzubringen. Nach einer Studie des Fachzentrums Schulisches Mobilitätsmanagement verabschiedeten sie gemeinsam mit Eltern, Schülern und Lehrern 2022 ein Schulmobilitätskonzept. Darin wurde bereits ein Verkehrsversuch angekündigt, der – wie auch im Mobilitätskonzept Move 35 – eine Teilzeitsperrung der Straße zu den Stoßzeiten zu Beginn und zum Ende der Schule vorsah. Alle vier Schulleitungen und alle Elternbeiräte stellten sich hinter das Konzept, berichtet Ute Visser. Doch das Votum ging – vermutlich im Streit um Move 35 – unter.
Zentraler Gegner der Kurzzeit-Sperrung ist der Ortsbeirat Ockershausen. Mit dieser Maßnahme würde der „gesamte“ Verkehr durch Ockershausen rollen, durch den Bachweg, die Stiftstraße und die Ockershäuser Allee, meint Ortsbeiratsvorsitzender Ludwig Schneider: „Da können wir nicht zustimmen.“ Dadurch werde die Belastung im Stadtteil noch potenziert. Immerhin: Gegen Verkehrsberuhigung im Schulviertel hat auch der Ortsbeirat nichts einzuwenden.
Von einer Sperrung versprechen sich das Kinder- und Jugendparlament, Elternbeiräte und Schulleitungen einen besonders durchschlagenden Effekt. Es gibt allerdings ein Problem: Die Lehrerparkplätze wären dann auch nur noch schwer zu erreichen. Deshalb nahm auch Kopatz Abstand von der Idee. Für die Zukunft setzt er auf eine Campus-Straße, mit der die Straße so schmal und eng wird, dass die Autofahrer nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren können und von sich aus lieber zur geplanten „Kiss-and-Ride-Zone“ fahren, die etwa an der Gisselberger Straße entstehen könnte. Fürs Erste sieht Ute Visser in der Fahrradstraße „einen Fortschritt“, der einiges bringen könne: „Wir wollen auf jeden Fall nicht wieder zehn Jahre warten, bis etwas passiert.“
Schulviertel mit 3500 Kindern und Jugendlichen
Zum Schulstandort Leopold-Lucas-Straße im Westen Marburgs gehören das Gymnasium Philippinum, die Elisabethschule, die Kaufmännische Schule und die Freie Waldorfschule mit ihren rund 3500 Schülerinnen und Schülern. In der Nähe liegen noch die Sophie-von-Brabant-Schule und die Schule am Schwanhof, die zusammen von knapp 700 Schülern besucht werden. Hauptzufahrt für den morgendlichen Bringverkehr ist die Schwanallee. Der östliche Teil der Leopold-Lucas-Straße ist nach den Erhebungen aus dem Klimaschutzteilkonzept „Klimafreundliche Mobilität“ auch besonders konfliktträchtig. Ein „Hotspot“ sei die Einfahrt, die zum Parkplatz der Waldorfschule und zu den Lehrerparkplätzen führt. Dort treffen Autos, Fußgänger und Radler in einem unübersichtlichen, engen Gewirr aufeinander. Radwege gibt es nicht.
Wie viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen, ist unklar. Nach einer – allerdings zehn Jahre alten – Schülerbefragung aus dem Klimaschutzteilkonzept „Klimafreundliche Mobilität“ lag der Anteil der Elterntaxis im Philippinum bei elf Prozent im Sommer und 17 Prozent im Winter. Bei Schülern mit Führerschein fuhren sogar mehr als die Hälfte selbst mit dem Auto. Bei den Kaufmännischen Schulen mit ihren vielen volljährigen Schülern aus dem Umland zeigt eine Analyse aus dem Jahr 2023, dass rund die Hälfte der jungen Leute mit dem Auto fahren oder gefahren werden.
gec