Es war eine Premiere für Marburg: Der erste autonom fahrende Elektrokleinbus pendelte eine Woche lang auf dem Gelände der Marburger Behringwerke. Damit konnten erstmals auch “normale Bürger” das eigenwillige Gefährt ausprobieren, das in Hessen bislang nur auf dem Areal der Frankfurter Flug­hafen-Be­trei­ber­ge­sell­schaft Fraport unterwegs war. 300 Marburger nutzten die Gelegenheit. Die erste Bilanz: Technisch ist noch viel zu tun, bis die Vision von selbst fahr­en­den Autos in der Universitäts­stadt Realität wird. Aber die Fahrgäste waren trotzdem begeistert.

Um auf der 550 Meter langen Teststrecke zwischen der Pforte an der Emil-von-Behringstraße und dem Gebäude H50 führerlos fahren zu können, wurde die Straße “gemappt”, also virtuell erfasst. Der Kleinbus fährt dann mit Hilfe von Laserscannern, welche die Umgebung abtasten, und GPS-Signalen. Wegepunkte im (realen) Boden waren nicht nötig. Die Technik ist so genau, dass sie auch am Rand parkende Autos, plötzlich auftauchende Fußgänger und Werksverkehr meistert.

Der Kleinbus selbst – er sieht von vorne genauso aus wie von hinten – ver­strömt die Atmosphäre einer Seilbahngondel. Er hat weder Fahrer noch Lenk­rad. Zur Sicherheit fährt allerdings der angehende Ingenieur Kevin Fischer mit, der wie ein Schaffner in der Kabine steht und die Technik erläutert. In der Hand hält der “Operator” einen Xbox-Controller, mit dem er bei Gefahr eingreifen kann. Gesteuert wird das eigenwillige Gefährt dann mit einem Joystick.

Vorsichtshalber warnt er gleich vor den häufigen Voll­bremsungen. Eigentlich sollen sie nur eingelegt werden, wenn zum Beispiel plötzlich ein Wildschwein die Straße kreuzt. Tatsächlich legt der Bus mitunter auch dann eine Voll­bremsung hin, wenn das GPS-Signal Metall­rohre in drei Metern Höhe über der Fahrbahn oder Schneehaufen meldet. Deswegen werden nachfolgende Autos inzwischen gewarnt: “Abstand halten”, heißt es auf der Rückseite des Wagens. Der Kleinbus muss wegen seines zu kleinen Motors auch nach jeder Runde eine Pause einlegen. Und wie viele Male Projektmitarbeiter Fischer das System komplett herunterfahren und neu starten musste, um das Gefährt wieder in Gang zu setzen, hat er nicht mehr gezählt.

“Vielleicht liegt es an der Kälte”, mutmaßt Fischer, der zum Projektteam der R+V-Versicherung zählt, die den Testbetrieb gemeinsam mit der IHK und vielen anderen Partnern gestartet hat. Aber das Fahrzeug habe auch einen viel zu kleinen Motor für die steile Strecke. In Deutschland gibt es bislang keine Hersteller für autonom fahrende Busse. Deswegen stammt das Fahrzeug aus einem französischen Startup-Unternehmen bei Lyon, das eigentlich aus der IT-Branche kommt. Dort wurde das Auto wie in einer Manufaktur gefertigt, jede Schraube einzeln angefasst.

Fischer schaut aufmerksam auf das “Auge” des Kleinbusses. Es handelt sich um einen Bildschirm, der rote Wegepunkte, virtuelle “Schienen”, grüne Flächen und weiße Linien zeigt. Passieren Menschen die Strecke, sehen sie aus wie blau-gelb-rote Männchen.

Unsicher fühlen sich die Passagiere allerdings nicht. “Das ist eher gemütlich”, sagt ein Fahrgast. Gefährliche Situationen sind auch nahezu ausgeschlossen. Das liegt natürlich auch an der überschaubaren Geschwindigkeit des Gefährts: Mit maximal 16 Stunden­kilo­metern surrt der Wagen den Berg hinauf, mit nur zwölf Stun­den­kilo­metern wieder hinunter. Der Bus kann zwar auch 45 Stun­den­kilo­meter fahren, das ist aber aus Sicherheitsgründen noch nicht erlaubt. Die Fahrgäste staunen aber darüber, wie dicht der Kleinbus an parkenden Autos vorbei­fahren kann. Bis zu zwei Zentimeter hat Fischer schon erlebt. Wenn ein Auto oder eine Kiste im Weg steht, kann der Bus aber nicht einfach vorbei­fahren. Das Fahrzeug bleibt stehen und hupt so lange, bis das Hindernis ver­schwun­den ist. Die Hupe haben die Techniker deswegen lieber gleich aus­ge­schaltet.

Die Bilanz von Thomas Madry, IHK-Referent für Energie, Umwelt und Inno­vation: “Wir hatten technische Probleme, vor allem mit der Überhitzung des Motors, der einfach zu klein war.” Dennoch ist die IHK, die das Projekt voran­getrieben hat, zufrieden. Wissenschaftlich begleitet wird es nämlich von der Marburger Philipps-Universität und der Technischen Hochschule Mittelhessen. Und die Studierenden haben Fragebögen an die Fahrgäste ausgeteilt, die trotz der vielen technischen Pannen geradezu begeistert waren. Für Madry bedeutet dies, dass sich die Weiterentwicklung lohnt. Nachgedacht wird nun über einen stärkeren Motor oder das Fahrzeug eines anderen Herstellers.

Bereits 2018 soll das automatische Fahren nämlich auf einer öffentlichen Straße im Kreis Marburg-Biedenkopf ausprobiert werden. Und für 2019 ist der Start für den Regelbetrieb im Werksverkehr eines Unternehmens in der Region geplant.

Autonomes Fahren in Marburg
Seit zwei Jahren arbeitet ein Arbeitskreis der Industrie- und Handelskammer daran, Marburg zu einer Pilotstadt für autonomes Fahren zu machen. Es wurde bereits ein Video mit einem selbst fahrenden Auto im Erlkönig-Look gedreht, das vom Marburger Hauptbahnhof zu den Lahnbergen fuhr – die ursprünglich geplante Teststrecke. Nun folgte der erste Test im Werksverkehr. Autonome Fahrzeuge werden unsere Gesellschaft und unser Leben in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich neu gestalten”, sagt Regionalausschussvorsitzender Peter Lather. Finanziert wurde das Projekt von IHK, Stadt und Kreis Marburg, Pharmaserv und der Volksbank Mittelhessen. Unterstützung gab es von der R+V Versicherung, deren Innovation-Lab-Team das Fahrzeug betreute.
– gec

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes