Interaktive Fahrradkarte für Marburg

Aus einem “Coronaprojekt“ heraus – Start im Juli 2020 – haben Ulrich Schu, Boris Lang und Norbert Donner-Banzhoff einen interaktiven Radwegeplan für Marburg entwickelt – mit sicheren Verbindungen zwischen Stadtteilen, Außenstadtteilen und den Lahnbergen. Für die Radl-Enthusiasten ist klar: In puncto fahrradfreundliches Marburg gibt es noch einiges zu tun.


Express: Beginnen wir mit etwas Positivem: Was hat sich in Marburg in der letzten Zeit betreffs Fahrradfreundlichkeit zum Besseren getan?

Ulrich Schu: Wir haben in Marburg in den letzten Jahren Veränderungen insbesondere in Form von aufgemalten Markierungen, veränderten Verkehrsschildern und veränderten Ampelschaltungen erlebt, nur wenig durch Baumaßnahmen.Zu den aufgemalten Markierungen gehören die breiten roten Streifen auf verschiedenen Straßen in der Stadt sowie auf den Lahnbergen. Sie vermitteln deutlich mehr Sicherheit. Leider beginnt auf den Lahnbergen diese Markierung erst 1 km hinter dem Klinikum, und an der Bahnhofstraße endet sie an einem Bordstein. Die gute Absicht sucht in beiden Fällen noch ihren richtigen Anfang und ihren richtigen Abschluss.

Boris Lang: Zu den veränderten Verkehrsregeln gehören Öffnungen von Einbahnstraßen in Gegenrichtung für den Radverkehr, vor allem im Südviertel. An einer strategisch wichtigen Stelle ist diese Öffnung übrigens nicht vorgenommen worden, nämlich zur Einfahrt in die Straße „Am Grün” von der Universitätsstraße aus.Zu den positiven Entwicklungen gehört die jüngst erfolgte Umwidmung der Uferstraße als Fahrradstraße. Das ergibt deutlich mehr Platz für den Radverkehr und macht es auch für Passanten auf dem Fußweg sicherer und angenehmer. Als bauliche Maßnahme ist erwähnenswert die Verbesserung des Forstweges in Verlängerung des Alten Kirchhainer Weges zum Klinikum auf einer Strecke von 300 m als Kooperation von HessenForst und Stadt Marburg.

Norbert Donner-Banzhoff: Es tut sich auch etwas in den Köpfen. Beipielsweise haben der Oberbürgermeister, der Bürgermeister, die Straßenverkehrsbehörde, die Polizei und die Stadtwerke an einer Veranstaltung teilgenommen, bei der es um die Verankerung des Abstandsgebots der StVO ging. Viele Menschen beherzigen diese Regeln und überholen Radfahrende nur, wenn sie 1,5 m mindestens als Seitenabstand einhalten können – aber Ausnahmen erschrecken die Radfahrenden immer wieder. Die gestrichelten Schutzstreifen suggerieren unserer Erfahrung nach übrigens geringere Überholabstände.

Wo liegen die ärgsten Missstände?

Boris Lang: Einige Bereiche oder ganze Stadtteile sind für den Radverkehr gar nicht sinnvoll und gefahrlos zu erreichen: Marbach, Wehrda, die Außenstadtteile im Westen um nur wenige zu erwähnen. Es ist auch nicht immer toll, die Lahnberge und andere Ziele nur auf Schotterwegen erreichen zu können. Falls es schneit, bleibt der Schnee einfach liegen.Darüberhinaus gibt es zahllose Anschlussprobleme und Lücken, für die wir hier nur Beispiele anführen können. Beispielsweise der 200 m lange Steg über die Bahn und die Autobahn am Aquamar, auf dem man den Regeln zufolge schieben muss, weil die Geländerhöhe nicht ausreicht.


Ulrich Schu: Oder die zahllosen Stellen, an denen die Dynamik des Radverkehrs gar nicht berücksichtigt wird. Schauen Sie sich die neu angelegte Einmündung „Am Krekel” auf die Südspange mit Radfahrer-Augen an. Wo komme ich dort im Radfahrer-Tempo voran? Ist dort ein sinnvoller und durchgängiger Weg für den Radverkehr abgebildet oder wird er dort abgebremst und im Zick-Zack geführt? Warum? Wann passiert etwas in den Köpfen der Straßenbauer, die dies gerade erst gebaut haben? Warum muss ich an Einmündungen systematisch abbremsen oder mir an den Bordsteinkanten die Felgen kaputt machen, wenn es schon einen Radweg gibt?

Ist Marburg überhaupt fahrradfreundlich zu gestalten? Topographie, Baugeschichte, historische Verkehrsentwicklung sprechen ja nicht gerade dafür …

Ulrich Schu: Diese Ausrede gegen gut geplante Radverkehrsanlagen sind wir etwas leid. Den teilweise erheblichen Steigungen begegnen immer mehr Menschen mit der Anschaffung eines E-Bikes. Probieren Sie es aus: Sie kommen aus der Innenstadt meist rascher und besser gelaunt auf den Lahnbergen an als mit dem Auto. Ob man heute noch mal eine Stadtautobahn in die Lahnaue bauen würde und das Universitätsklinikum samt neuem Uni-Campus wieder mitten in den Wald auf die Lahnberge setzten würde, lässt sich bezweifeln. Aber jetzt brauchen wir geeignete Querungen der Stadtautobahn und fahrradgerechte Wege auf die Lahnberge.

Norbert Donner-Banzhoff: Außerdem ist die historische Verkehrsentwicklung umkehrbar, und vielleicht erleben wir bald den Tag, an dem die Stadtautobahn zurückgebaut wird. Niemand in Marburg wird den Lärmteppich vermissen. Einschränkungen des Autoverkehrs sind im ersten Moment oft unpopulär. Letzlich – das zeigen Beispiele aus anderen Städten – profitieren jedoch alle davon. Hier zeigt die Stadtregierung derzeit zu wenig Mut!

Wie kam nun die Idee für einen interaktiven Marburger Radwegeplan zustande?

Boris Lang: Wir fahren selber schon lange überwiegend auf solchen Wegen durch Marburg und freuen uns jedesmal über das gute und sichere Vorankommen. Wir wollten es mit anderen teilen und von den Erfahrungen anderer Radfahrerinnen und Radfahrer lernen.

Was macht das Angebot besonders?

Ulrich Schu: Es ist dreierlei: Erstens haben wir Wege zwischen den Stadtteilen und zu den Lahnbergen zusammengestellt. Für Menschen, die neu zugezogen sind oder neuerdings den Einstieg zum Fahrradfahren suchen, ist es als Orientierung gedacht. Sie können sich darauf verlassen, dass Sie auf diesen Wegen rasch und sicher vorankommen bzw. dass Schwierigkeiten in den Hinweisen erläutert sind.Zweitens ist uns vielleicht nicht mehr immer bewußt, wo eigentlich die Anschlüsse fehlen und welche Fahrtrichtungen gar nicht abgebildet sind. Dazu sind die ortbezogene Feedback- und die allgemeine Kommentarfunktion in die Kartenfunktion eingebaut. Wenn Sie in Marburg radfahren, bringen Sie bitte Ihre guten und schlechten Erfahrungen ein. Drittens zeigt die Karte für die Verkehrsplanung die weißen Flecken und die Netzlücken. 

Wie benutze ich die Karte?

Norbert Donner-Banzhoff: Schauen Sie sich die Karte im Internet an. Sie können vergrößern, verkleinern und verschieben. Sie klicken auf die Wege oder die Hinweise und bekommen Informationen zur Oberflächenbeschaffenheit der Wege oder zu unerwarteten Schwierigkeiten. Durch Einblenden oder Ausblenden verschiedener Ebenen verschaffen Sie sich Überblick.Auf der Feedback-Seite platzieren Sie die Markierung und kommentieren, was Sie dazu meinen. Sofern Sie Probleme nicht selber an die Stadt melden wollen, geben wir es gerne weiter.Nicht zuletzt gehen Sie auf die Download-Seite und laden die gpx-Tracks oder die Hinweise herunter, um sie auf dem Navigationsgerät einblenden zu können. Das wird Ihnen zur Orientierung helfen, weil viele dieser Strecken nicht ausgeschildert sind.
Nicht alle sind von einer Zunahme des Radverkehrs begeistert.

Wo liegen Interessenskonflikte?

Boris Lang: Gegenfrage: Wer ist von einer Zunahme des Radverkehrs nicht begeistert? Falls Autofahrende gemeint sind: Sie profitieren vom steigenden Radverkehrsanteil, da jeder Alltagsradler ein Auto ersetzt und die übrigen in ihren Autos weniger Zeit im Stau verbringen müssen. Auf gemeinsamen Fuß- und Radwegen sind wir auf dem Fahrrad natürlich die stärkeren Verkehrsteilnehmer und müssen selber Rücksicht nehmen.

Inwieweit beeinflussen Entwicklungen wie der E-Bike-Boom oder das immer öfter genutzte Bike Sharing z.B. von Lastenrädern die Situation?

Ulrich Schu: Der E-Bike-Boom bringt viele Menschen aufs Rad, für die es sonst zu anstrengend oder zu langsam wäre. Für geübte Radfahrer erweitern E-Bikes den Radius ganz erheblich. Wenn sonst 5-10 km einfache Strecke zum Arbeitsplatz eine Obergrenze für den Alltag sind, sind mit E-Bike auch Strecken bis 15 km möglich. Vor allem verlieren die gefürchteten Marburger Bergstrecken ihren Schrecken nahezu vollkommen. Bei Verkehrszählungen haben wir festgestellt, dass der Anteil an E-Bikes umso größer ist, je bergiger es ist.
Norbert Donner-Banzhoff: Lastenräder können die letzte Meile des Lieferverkehres ersetzen oder für einen Haushalt für Einkäufe etc. das Auto im Alltag so weit ersetzen, dass es in immer weniger nötig ist und letztlich Lastenrad- und Car-Sharing das eigene Auto ersetzen. Weniger Autos bedeuten weniger Parkplätze und mehr Platz für den übrigen Verkehr.

Enden wir mit etwas Positivem: Wie sähe die Vision für ein fahrradfreundliches Marburg 2030 aus?

Norbert Donner-Banzhoff: Die Veränderung findet zuerst in den Köpfen und dann auf der Straße statt. In den Köpfen gehört dazu gegenseitige Rücksicht. Dann kann ich auch auf einer vielbefahrenen Durchgangsstraße mit dem Fahrrad fahren, weil ich weiß, dass die Autos den erforderlichen Seitenabstand halten. Dazu gehört aber auch, dass Fahrradfahren als Fortbewegungsweise im Alltag ernstgenommen und gefördert wird. Dann werden Verkehrsplaner nicht nur den Autoverkehr möglichst flüssig und rasch durch die Stadt leiten, sondern auch die Belange des Fuß- und Radverkehrs berücksichtigen. Dann werden Kreuzungen nicht mehr derartig angelegt, dass die Autos vorbeirauschen und man mit dem Fahrrad Zick-Zack fahren und mindestens einmal anhalten muss. Wege für Menschen von 8-80 Jahren müssen das Ziel sein. Wenn der richtige Blick da ist, werden die Wege anders angelegt.


Boris Lang: Es hat auch mit der Bedarfserfassung zu tun. Straßen werden im Moment angelegt und vergrößert, wenn sich der Verkehr staut. Radverkehr staut sich aber nicht. Im Gegenteil kommt Radverkehr überhaupt erst zustande, wenn geeignete Wege vorhanden sind. Wer kommt darauf, mit dem Rad zu fahren, wenn er in Lärm und Abgasen fahren muss? Man sieht den Bedarf für den Radverkehr nicht direkt. Verkehrsplaner müssen anders herum denken, wenn sie den Radverkehr voranbringen wollen.


Ulrich Schu: Der Spaß beim Radfahren in Marburg wurde 2020 im Rahmen des ADFC-Fahrradklimatest mit der Schulnote 3,5 bewertet. Eine deutliche Note 2 sollte für 2030 schon drin sein – gerne auch 2+ und gerne auch früher!

Interview: Michael Arlt


www.marburg-biedenkopf-mobil.de

Bild mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Schu