Um das Autoland Deutschland zu verändern, plädiert der Verkehrsforscher Stephan Rammler für eine neue Mobilität, die Fahrräder, Busse, Bahnen, Car-sharing, Elektroautos und Anrufsammeltaxis klug verbindet. Schon in den 90er Jahren – während des Studiums in Marburg – gehörte er zu den Wegbereitern des Semestertickets. Heute setzt er vor allem auf die Städte. Von Ideen wie dem Behringtunnel oder der Westumfahrung, mit der die Marburger Innenstadt entlastet werden soll, hält er allerdings nichts: “Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten”, sagt Rammler: “Das ist genau die Art von Politik, die kurzfristig Probleme löst, aber langfristig das Gegenteil erzeugt.” Stattdessen rät er dazu, den Radverkehr in der City und den öffentlichen Nahverkehr gemeinsam mit den Umlandgemeinden bis nach Biedenkopf und Gießen auszubauen.

Seit Oktober ist der Verkehrsforscher wissenschaftlicher Direktor des Berliner Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, das einst von Robert Jungk gegründet wurde, dem Träger des alternativen Nobelpreises. Die Unterstützung von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Gesellschaft gehört damit offiziell zu seinen Aufgaben. Mehrere Verkehrsminister hat er bereits beraten. Rammler setzt vor allem auf eine gut vernetzte Mobilität, die verschiedene Verkehrsmittel unkompliziert verbindet. Abgebrochene Reiseketten hielten die Menschen davon ab, auf alternative Reisemöglichkeiten umzusteigen. Daher sollen gut ausgebaute Radwege, optimierte Bahnsysteme und ein guter öffentlicher Nahverkehr mit Fahrradflotten und Pedelecs zum Ausleihen, geteilten Elektroautos, Mitfahrgelegenheiten, Carsharing und leicht zu buchenden Anrufsammelbusse vernetzt werden.

“Volk ohne Wagen” heißt die Streitschrift, mit der Stephan Rammler bekannt geworden ist. Viele Jahre sei Deutschland mit seiner auf das Autofahren ausge-richteten Kultur relativ gut gefahren, sagt Rammler. Doch nachhaltig ist das nicht. Und selbst mit der Umstellung auf Elektroantrieb sei die Verkehrswende nicht zu erreichen: Bislang gibt es in Deutschland 46 Millionen Autos mit Verbrennungsmotoren, erläutert der Wissenschaftler. Wenn man sie durch 46 Millionen Elektroautos ersetze, werde nur die extrem ineffziente Automobilkultur fortgesetzt, in der Pkw im Durchschnitt 23 Stunden am Tag ungenutzt herumstehen und Raum verschwenden. “Es müsste eigentlich Stehzeug und nicht Fahrzeug heißen”, so Rammler: “Das ist eine Vergeudung von volkswirtschaftlichen Ressourcen.” Zudem sei die Ökobilanz eines Elektroautos lange nicht so gut wie ihr Ruf. So fällt bei der Produktion deutlich mehr Kohlendioxid als beim konventionellen Auto an.

Um eine nachhaltige Mobilität zu erreichen und auf die Zeit der aufgebrauchten Erdöl-Vorräte vorzubereiten, müssten sich die Menschen davon verabschieden, selbst ein Auto zu besitzen und zu fahren. Doch das ist schwer in Geburtsland des Automobils, in dem eine besonders enge emotionale Beziehung zum Auto herrsche. Und nicht nur das: “Wir haben Raum- und Siedlungsstrukturen, die ohne Auto nicht funktionieren”, sagt Rammler. Dies gelte zumindest für die ländlichen Räume und für viele Siedlungen mit Einfamilienhäusern in den Speckgürteln der Städte. Über Jahrzehnte seien Städte und Verkehrswege als “Monokultur der Automobilität” gebaut worden.

Die Mobilität als “ein unheimlich facettenreiches, faszinierendes Thema” entdeckte er bereits während des Politik-, Soziologie- und Ökonomiestudiums ins Marburg. Schon für seine Vordiplomarbeit untersuchte er gemeinsam mit Sven Kesselring Anfang der 90er Jahre die Verkehrssituation und die Akzeptanz für die Einführung eines Semestertickets. Auf dieser Basis verhandelte der Marburger Asta dann das erste Semesterticket der Universität. Heute können die Studierenden mit den solidarisch finanzierten Semestertickets – jeder muss sie bezahlen, egal, ob er sie nutzt oder nicht – an fast allen deutschen Unis mit Bussen und Bahnen fahren. Besonders stark war die Veränderung in Marburg, wo das Ticket besonders gut ausgestattet ist und die Zahl der Auto fahrenden Studierenden von einst 70 Prozent auf sieben bis neun Prozent sank: “Da ist wirklich etwas angeschoben worden”, sagt der Experte.

Schon mit 33 wurde Stephan Rammler Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Das von ihm gegründete “Institut für Transportation Design” beriet auch die Autoindustrie über alternative Konzepte und forschte über Elektro-Mobilität, shared Economy, Güterlogistik, Pedelecs und die Zukunft des Parkens. Die jüngere Generation der Manager in der Automobilindustrie reagiere sehr offen auf alternative Konzepte, berichtet Rammler. Er hat viele Jahre an der Autouni in Wolfsburg – ein internes Weiterbildungszentrum von VW – unterrichtet. Rammler ist davon überzeugt, dass sich Deutschlands Schlüsselindustrie tiefgreifend wandeln muss, um nicht abgehängt zu werden.

In seinem Konzept gibt es auch noch “Autobausteine”, sie spielen aber nur noch eine kleinere Rolle. Dazu schaut er ins Silicon Valley, wo das automatisierte Fahren perfektioniert wird und nach China, wo die Elektromobilität und die gemeinsame Nutzung von Fahrzeugen vorangetrieben werden. Ab 2025 dürften Autos mit Verbrennungsmotoren gar nicht mehr zugelassen werden, so Rammler. Und auch die Elektroautos solle man sich teilen, so dass sie besser genutzt werden und weniger Fahrzeuge nötig sind.

Damit könnte – so Rammler – auch das Parkraumproblem in den Städten gelöst werden. Es sollten dabei sogar enorme Parkflächen frei werden – Platz für dringend benötigte Wohnungen oder für Radwege und Parks. Angesichts der immer enger werdenden Welt müsse man die Frage stellen, ob man in den Städten Wohnraum oder Straßenraum vorhalte, “wo ein mit einer Person besetzter SUV Platz braucht”. Rammler rät dazu, auf alles zu setzen, “was das Autofahren unattraktiv, teuer und unbequem macht”. Nur dann würden die Bürger “irgendwann erkennen, dass es keinen Sinn macht, ein Auto zu besitzen”.

Dabei hofft er vor allem auf die Städte, die unter Feinstaub, schlechter Luft, Lärm und ständigen Staus leiden. Sein Ideal wäre eine Mischung aus Kopenhagen, Amsterdam, Wien und Hamburg, die vorbildliche Wege für nachhaltigen Verkehr gehen. Er weiß aber auch: “Der Weg ist wirklich sehr weit.”

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes