Festungshaft & literarische Karriere: Jordan-Nachfahrin erkundet Orte der Familie.
Ihre Oma habe ihr immer „von dieser deutschen Familie erzählt“, berichtet Helena Jordan. Die junge Frau aus Mexiko steht zusammen mit Kulturwissenschafts-Professorin Marita Metz-Becker am Rande des Lutherischen Kirchhofs und blickt zum kleinen „Jordan-Turm“ an der Südseite des Landgrafenschlosses, wo einst ihr bekanntester deutscher Vorfahr eingekerkert war.
Dort war der Staatsrechtsprofessor Sylvester Jordan 1839 bis 1845 zu Unrecht in Festungshaft, wegen Verdachts auf Hochverrat im Umfeld der Revolutionäre Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig.
Dass seine mexikanische Nachfahrin zu Besuch in Marburg ist, hängt allerdings weniger mit dem Rechtsgelehrten zusammen, sondern vielmehr mit dessen Tochter, der Autorin, Kritikerin, Zeitungskorrespondentin und Übersetzerin Henriette Keller-Jordan. Über den Lebensweg der couragierten Frau hat Kulturwissenschaftlerin Metz-Becker bereits Anfang der 1990er Jahre das „Portrait einer vergessenen Schriftstellerin“ geschrieben.
Helena, Nachfahrin selbiger in 6. Generation, macht zurzeit einen Sprachkurs in Deutschland. Bei der Recherche nach ihren familiären Wurzeln war sie mithilfe ihrer Gastfamilie in Hamburg auf das Buch gestoßen und hatte Metz-Becker angeschrieben. „Ich habe sie dann nach Marburg eingeladen“, erzählt die emeritierte Kulturwissenschaftlerin.
Jetzt folgen beide an dem sonnigen Sommertag den Spuren der Familie in Marburg, sichten Unterlagen im Staatsarchiv am Friedrichsplatz und machen einen Stadtspaziergang zu den Orten der Jordans in der Lahnstadt.

Kulturwissenschaftlerin Marita Metz-Becker und Helena Jordan vor dem ehemaligen Haus der Familie in der Nikolaistraße 1.
Henriette Keller-Jordan sei eine überaus produktive Schriftstellerin gewesen berichtet Marita Metz Becker. „Sie hatte in ihrer Zeit hohe Auflagen und wurde viel gelesen.“ Heute werde die Frau, die am literarischen Leben ihrer Zeit nicht unbedeutend mitgewirkt habe, allerdings nicht mehr gelesen – und sei wie unzählige ihrer Geschlechtsgenossinnen in Vergessenheit geraten.
Ihre Kindheit in Marburg war durch die Gefangenschaft ihres Vaters „keine freudige“, schreibt die 1835 geborene Schriftstellerin. „Ich denke noch heute mit Grauen an die steinernen Kerker und die mit Eisenstangen verrammelten Thüren, wenn ich meinen Vater in seiner Zelle besuchte.“ Henriettes Mutter entwickelt während der Haftzeit ein schweres Nervenleiden. Die vier älteren Kinder aus Silvester Jordans erster Ehe erkranken an der Schwindsucht und sterben, ohne dass ihr Vater der Familie beistehen kann, da er in Festungshaft sitzt. Dazu kommt, dass die Familie durch die Haft des Vaters geächtet ist und nur noch wenige Bekannte mit ihnen zu tun haben wollen.
1845 wird Jordans Haftstrafe aufgehoben. Drei Jahre später zieht die Familie nach Frankfurt, dort ist Sylvester Jordan zum Vizepräsident des Frankfurter Vorparlaments gewählt. Nach der harten Marburger Zeit folgt damit wieder der soziale Aufstieg.
Von Frankfurt geht es weiter nach Kassel. Henriette lernt den mexikanischen Kaufmann Edgardo Keller kennen, heiratet ihn 1855 und verbringt zehn Jahre mit ihm in Mexiko. Die Eheschließung mit dem 16 Jahre älteren Mann stellt sich schnell als schweren Fehler heraus. Keller spielt sich als „absoluter Herscher“ auf, und „hielt sie wie ein unmündiges Kind“, schreibt Metz-Becker in ihrem Porträt.
Als es mit den Geschäften des Kaufmanns bergab geht, zieht die Familie mit inzwischen drei Kindern zurück nach Deutschland. Hier schafft es Henriette mit großer Zähigkeit, ihren Mann zu überzeugen, aus der ländlichen Schwalm in die Stadt, nach Marburg, zu ziehen.
Im Alter von 40 Jahren schafft sie es schließlich, sich von ihrem brutalen Ehemann zu trennen. Ihr Lieblingssohn Richard, der inzwischen in Tübingen studiert, nimmt sie mit in seine Universitätsstadt. Dort lebt sie zunächst mit Richard, mietet sich ein kleines Zimmer, – beginnt ihr eigenständiges Leben und erfindet sich als Schriftstellerin neu. Trotz des Stigmas als getrennt lebende Frau, gelingt es ihr, Fuß zu fassen, und Geld mit schriftstellerischen Tätigkeiten zu verdienen. Auf die Unterstützung ihres geliebten Sohns Richard muss sie dabei vor Ort verzichten. Denn er ist zurück nach Mexiko gegangen, in das Land seiner Geburt, um dort zu arbeiten. Einmal schafft es Henriette Keller-Jordan später noch, ihren Sohn zu besuchen. Auf ein umfangreiches Werk mit allein elf veröffentlichten Büchern kann die Schriftstellerin Ende ihres Lebens zurückblicken. Ihre zahlreichen in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen Romane und Novellen würden dazu „Bände füllen“, schreibt Metz-Becker in ihrem Porträt.
Nachfahrin Helena hat unterdessen bei einer Online-Recherche im Staatsarchiv von München noch alte Postkarten von Richard an seine Mutter entdeckt, die ihren letzten Lebensabschnitt in der bayerischen Metropole verbracht hat.
Alles, was sie bei der Spurensuche entdeckt, schreibt sie sofort ihrer Großmutter in Mexiko, die die Erinnerung an Henriette hochhält, berichtet, Helena: „Oma steht immer ganz früh auf und schreibt mir, ‚hast du was Neues gefunden?’“
kro