Im Krieg sprechen nicht nur die Waffen. Unterlagen des Landratsamtes Marburg aus dem Jahre 1943 offenbaren unterschiedliche Zeugnisse alliierter Propaganda, sowie den Umgang der NS-Behörden mit der verbotenen Ware – darunter ein abgewandeltes Flugblatt der Weißen Rose.

Hunderte Flugblätter wirbeln durch den Lichthof der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität – darauf abgedruckt nichts Geringeres als ein öffentlicher Aufruf zum Widerstand gegen das NS-Regime. Es ist die letzte Aktion der Weiße Rose genannten Gruppe, die am 18. Februar 1943 zur Verhaftung und späteren Hinrichtung des studentischen Kreises um Sophie und Hans Scholl führte. Während fünf vorangegangene Flugblätter anonym und per Post an ausgewählte Personen gelangten, ging die Gruppe nun erstmals ein höheres Risiko ein. Fakt ist allerdings: Erst der letzte Stoß, den Sophie Scholl nach Auslegen der Flugblätter einem verbliebenen Stapel verpasste, führte zu ihrer Enttarnung. Und gleichzeitig ist es erst diese Szene, die einen festen Erinnerungsort im kulturellen Gedächtnis der Nachwelt markiert und letztlich die Weiße Rose zum Synonym der Geschichte des zivilen deutschen Widerstands werden ließ. Weitaus weniger bekannt sind allerdings die Umstände, die ihrer herausgehobenen Popularität den Weg bereiteten. Abermals spielten dabei die fliegenden Blätter eine zentrale Rolle, nicht jedoch im Lichthof der Münchener Universität, sondern über den Dächern zahlreicher deutscher Städte – darunter auch Marburg.

Anhand des Schicksals der Weißen Rose sollte mit dem Flugblatt – Download unter https://landesarchiv.hessen.de/flugblatt-weisse-rose – auf die Existenz des deutschen Widerstands aufmerksam gemacht werden. Die Neufassung der britischen Propagandabehörden, abgeworfen u.a. aus geleerten Schächten der Bomber, richtete sich unter der nüchternen Überschrift „Ein deutsches Flugblatt“ an ein breiteres Publikum, der ursprüngliche Aufruf „Kommilitoninnen! Kommilitonen!“ wurde dementsprechend ersetzt. Eine vorangestellte Einleitung thematisiert die Entstehung des Textes und das tragische Schicksal der nicht näher genannten „Studenten der Universität München“. Der eigentliche Text – hier betitelt als „Manifest der Münchener Studenten“ – wurde nur an wenigen Stellen verändert. So sind im Gegensatz zum Original Passagen hervorgehoben, welche nicht die Studierenden sondern die Gesamtgesellschaft adressieren. Ebenfalls visuell von Bedeutung ist die Verwendung der deutschen Fraktur im Haupttext, wohingegen die Einleitung in Antiqua gedruckt wurde.
In Anbetracht der verwendeten Sprache und Denkfiguren beschränkte sich das Flugblatt eher auf das bürgerlich-akademische Milieu. Zwar wurde auf eindeutige politische Marker verzichtet – ein erster Entwurf endete auf den Aufruf zum Eintritt in die „heilige Wehrmacht“. In der Tendenz lässt sich der Text allerdings eher dem christlich-freiheitlichen bis hin zum konservativ-nationalistischen Spektrum zuordnen, in dem nicht nur viele Widerstandsgruppen agierten, sondern ebenfalls große Teile der deutschen Bevölkerung. Insgesamt adressierte das Flugblatt ein Lesepublikum, das bereits Zweifel an der Kriegsführung oder am Regime hegte, und sollte dessen Selbstbewusstsein als potentiell widerständiges Kollektiv bestärken.

Auf Grund der wichtigen Botschaft wurde aus dem einige hundert Exemplare umfassenden Flugblatt der Weißen Rose ein „Feindflugblatt“ der alliierten Propagandamaschinerie. Schon drei Monate nach der Zerschlagung der Gruppe, im Juli 1943, konnte es in einer an die Million heranreichenden Auflage über deutschen Städten abgeworfen werden. Der Landkreis Marburg wurde in der Nacht zum 10. Juli von der Royal Airforce angeflogen. Zahlreiche Bürgermeister meldeten daraufhin dem Landrat die Sichtung von Flugblättern, insgesamt 80 wurden in der unmittelbar erfolgenden Sammelaktion sichergestellt. Etwas weniger als die Hälfte wurden sofort vernichtet, die meisten jedoch unter den zuständigen Behörden der Gestapo, NSDAP und Ordnungspolizei zur weiteren Analyse versendet.

Wie wirksam solche konkreten Flugblattaktionen in der Bevölkerung letztlich waren, ist aus einem Mangel an repräsentativen Daten kaum einschätzbar. Die bis heute währende Relevanz der Weißen Rose hat der britische Nachdruck ihres letzten Flugblattes allerdings erheblich befördert. So verwendete auch Thomas Mann die Neufassung des Textes in einer seiner BBC-Rundfunkansprachen am 27. Juli 1943, in der bereits die Zukunft der Weißen Rose anklang: „Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein.“

Hessisches Staataarchiv Marburg/red

Bild mit freundlicher Genehmigung von Hessisches Staatsarchiv Marburg, HStAM, 180 Marburg 4171