Frauen erhalten nur gut halb so viel Rente wie Männer. Wie sie damit in teuren Städten überleben, erforscht die Kulturwissenschaftlerin Prof. Irene Götz. Am 27. September ab 19 Uhr liest die Forscherin aus ihrem Buch „Kein Ruhestand“ im Marburger Technologie- und Tagungszentrum.
Dawina B. hat 45 Jahre als Altenpflegerin gearbeitet, zuletzt als Stationsleiterin. Damit hat sie sogar eine vergleichsweise gute Rente. Dennoch musste sie ihre Wohnung aufgeben, weil sie nicht reicht, um in einer Stadt wie München die Miete zu bezahlen. Als die Kulturwissenschaftlerin Irene Götz sie traf, wohnte Dawina B. in der Drei-Zimmer-Wohnung ihrer Tochter, in der außerdem drei erwachsene Enkel lebten. Seit mehr als einem Jahr schlief sie auf einem Klappbett im Flur. Und das Wohnungsamt konnte ihr trotz höchster Dringlichkeitsstufe keine Bleibe vermitteln.
Der Fall ist einer von 50 Einzelschicksalen, denen Irene Götz mit ihrem Team nachgegangen ist. Da war die ehemalige Lagerarbeiterin, die ihre Rente mit dem Verkauf von Zeitungen aufbessert. Da war eine ehemalige Versicherungsangestellte, die abends in einem Callcenter arbeiten muss. Und eine frühere Bürokraft, die nach ihrer Scheidung in die Schuldenfalle geriet. In der Regel sah man ihnen die Armut nicht an. „Die Frauen sagen auch ihren engeren Familienangehörigen oft nicht, wie es um sie steht“, berichtet Götz. Sie wollen ihren Kindern nicht „zur Last fallen“.
Zugleich sind die Rentnerinnen erfinderisch und haben Wege gefunden, mit dem Mangel zu wirtschaften. Als Nachkriegskinder griffen sie auf „Notpraktiken“ zurück. Sie nähten ihre Kleidung, bügelten schwarz für den Nachbarn, kochten ein, warfen nichts weg und machten Suppen aus den übrig gebliebenen Kohlrabiblättern des Supermarkts. Mitunter wurde nur noch ein Zimmer geheizt. „Die Frauen sind sehr kreativ darin, sich irgendwie durchzuwurschteln“, sagt Götz. Dennoch verzichteten viele auf „unnötige“ Fahrten mit Bahn und Bus, gaben Hobbies auf, begrünten ihren Balkon nicht mehr und trafen sich nicht mehr mit Freundinnen im Café.
Viele der befragten Frauen stammen aus gutbürgerlichen Milieus. Ihr sozialer Abstieg begann mit der Scheidung. Entscheidend für alle Interviewten war, ob sie gesundheitlich in der Lage waren, mit begrenzten Ressourcen hauszuhalten und weiter Minijobs nachzugehen. Auch Ehrenämter wurden dabei zum begehrten Zusatzverdienst.
Die Ursachen für die Armut der Frauen sind vielfältig: Sie haben häufig in Teilzeit gearbeitet und wurden oft schlechter bezahlt. Sie haben Lücken in ihrer Erwerbsbiografie, weil sie sich um Kinder und pflegebedürftige Eltern gekümmert haben. Zudem stammen die Interviewten noch aus einer Generation, in der das Ein-Ernährer-Modell selbstverständlich war. Auf die Ausbildung der Mädchen wurde wenig Wert gelegt. Wenn sie sich scheiden ließen, war es in der Regel zu spät, um beruflich noch richtig Fuß zu fassen.
Irene Götz hält regelmäßig Vorträge bei Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften. Nach Marburg haben sie der Zonta Club und das städtische Gleichberechtigungsreferat eingeladen. Schließlich zeigt ihre Studie ein gesamtgesellschaftliches Problem. Ihre Ideen zur Lösung des Problems reichen von altersgerechten Arbeitsplätzen über die Abschaffung des Ehegattensplittings bis zur 35-Stunden-Woche für alle. Auch Freiberufler und Beamte sollten in die Rentenkasse einzahlen. In teuren Städten hängt die Lebenssituation aber vor allem an der Wohnung, die im Ruhestand oft unbezahlbar wird, weiß Götz. Die befragten Frauen hatten große Angst vor Mieterhöhungen und Nebenkostenabrechnungen.
Dass es für die Generation der Babyboomerinnen und ihre Nachfolgerinnen automatisch weniger Probleme mit Altersarmut geben wird, glaubt die Kulturwissenschaftlerin nicht. Nach den Prognosen der Wissenschaft wird 2036 jede vierte Rentnerin in Armut leben, in teuren Städten sogar jede dritte. Sie seien zwar besser ausgebildet, zugleich sinkt jedoch das Rentenniveau für Neurentner, berichtet Götz. Ohnehin hätten Minijobberinnen und Niedriglöhnerinnen in der Regel kein Geld, um in Riesterrenten und private Vorsorge zu investieren. Und nach wie vor arbeiteten auch gut ausgebildete Frauen viel in Teilzeit: „Solange das so ist, sehe ich für die Baby-Boomerinnen keine Verbesserung“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Sie hofft jedoch, dass diese Generation auf die Straße geht und mehr Lobbyarbeit für sich selbst betreibt.
Irene Götz ist dankbar dafür, dass sie sich keine Sorgen um ihre Rente machen muss. Seit 17 Jahren ist sie Professorin für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Ihr Team forscht auch über neue Mütterbilder. Waren die befragten Rentnerinnen noch stark davon geprägt, vor allem Mütter zu sein, hat sich dies nach 1968 liberalisiert. „Dennoch existieren heute noch modernisierte Varianten des alten Mütterbildes. Zu finden ist dies nach Überzeugung von Irene Götz zum Beispiel bei Mütterbloggerinnen. In der Regel handelt es sich um gut ausgebildete Frauen, die studiert haben, in schönen Großstadtwohnungen mit einem Mann für das finanzielle Backup leben. In ihren Blogs geht es um coole Street-Styles, Mama-relevante Plätze, Beauty, Spielzeug, Lieblingsläden und Ideen für die Einschulung. Die Einordnung sei jedoch schwierig, räumt Götz ein. Die Frauen sehen sich selbst nicht als Hausmütterchen, sondern verstehen sich als emanzipatorisch. Sie inszenieren Mutterschaft wie ein ästhetisches Projekt, sagt Götz: „Die Bloggerinnen versuchen, die Mütter aus dem angestaubten Image herauszuholen.“
Gesa Coordes