„Dass ich nicht gucken kann, fällt den meisten Menschen gar nicht auf“, sagt Marco Beyer. Auf seinem Kampfkunst-Anzug hat er deshalb eigens das Blindenabzeichen mit den drei schwarzen Punkten auf gelbem Grund aufgenäht: „Das macht niemand freiwillig“, sagt der 48-Jährige. Beyer ist fast vollständig blind. Nur auf einem Auge kann er noch Licht und Schatten wahrnehmen. Wer ihn in seiner Kampfkunstschule oder im Alltag erlebt, bemerkt dies allerdings kaum. „Ich bin der einzige blinde Kampfkunstmeister für Taidô Ryû Jû Jûtsu bundesweit“, sagt Marco Beyer. Der Sport ist nicht nur seine Leidenschaft, sondern hat ihn auch selbstbewusst gemacht. Die Kunst der Selbstverteidigung gibt er nun an Menschen mit und ohne Handicap weiter.

Es ist Mittwochnachmittag im schmucklosen Kellergeschoss des Bürgerhauses von Marburg-Wehrda. Hier liegt eine der Keimzellen für Beyers Kampfkunstschule. Seine drei Schüler verbeugen sich so, wie es die japanische Kunst vorsieht. Die 16-jährige Franzi Wetzel möchte sich wehren können, wenn sie angegriffen wird. Sie ist die einzige in der Runde, die sehen kann. Die spät erblindete Mareike Stein (51) möchte sich wieder mehr trauen. Und Christoph Cornehl (28) genießt den Sport und mag die Gruppe.
„Oft steckt eine Geschichte dahinter“, sagt Marco Beyer. Auch bei ihm selbst. Aufgewachsen in einer Handwerkerfamilie an der südlichen Weinstraße in Rheinland-Pfalz wurde er schon als Schüler gemobbt und verprügelt. Er war der mit der dicken Brille, der immer in der ersten Reihe sitzen musste, weil er so kurzsichtig war, dass er schon mit drei Jahren Gläser mit sechs Dioptrien trug. Diagnostiziert wurde eine erbliche Netzhauterkrankung, die fortschreitet. Die Schule konnte er noch normal besuchen. Aber schon während der Maurerlehre machte ihm das Augenleiden so zu schaffen, dass er abbrechen musste. Ob eine Mauer gerade oder krumm war, konnte er nicht mehr erkennen. Er sattelte auf den Beruf des Einzelhandelskaufmanns in einem Baumarkt um.

Er war 27, als es ihm die „Augen ganz zerriss“, wie er formuliert. Innerhalb von eineinhalb Jahren verlor er fast sein gesamtes Sehvermögen. „Aber ich bin ein sehr pragmatischer Mensch und ein Kämpfer“, sagt Marco Beyer. Zudem sei das Leben eigentlich schön. Er lernte die Blindenschrift und lebenspraktische Fähigkeiten.
Und er ging nach Marburg, wo er seinem Leben eine neue Wende geben konnte. Marburg gilt als Deutschlands Blindenhauptstadt. Nirgendwo sonst leben im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Sehbehinderte. Schon seit Jahrzehnten gibt es markierte Treppenstufen, sprechende Aufzüge, taktile Stadtpläne und Speisekarten in Punktschrift. Von hier aus traten die akustischen Ampeln und die weißen Langstöcke ihren Siegeszug an. „Hier ist alles auf Menschen mit Handicap eingestellt, das ist schon vorbildlich“, freut sich Beyer, der heute mit Ehefrau Ute und Hund Ringo im Stadtteil Wehrda wohnt. Blinde seien in Marburg auch für die Sehenden normal.
Aber auch in der Universitätsstadt wurde er noch angegriffen. „Irgendwann hatte ich sprichwörtlich die Schnauze voll“, sagt Beyer. Judo kannte er schon aus seiner Jugend. Viele weitere Kampfsportarten probierte er aus. Aber die meisten setzen auf Schnelligkeit und Distanz. Schließlich stieß er auf die japanische Selbstverteidigungskunst „Taidô Ryû Jû Jûtsu“, die ihn sofort überzeugte: „Ich brauche keine Kraft, keine dicken Arme. Ich muss nicht sehen können“, erklärt der 48-Jährige. Körperlich Unterlegene können sich damit erfolgreich zur Wehr setzen. Zudem beruht diese eher sanfte Kunst vor allem auf direktem Kontakt, sodass sie auch Sehbehinderten hilft, die Techniken zu ertasten. Beyer lernte sie bei einem Meister in Marburg, erwarb den schwarzen Gürtel und eine Trainerlizenz. Seitdem hat er nie wieder Schläge eingesteckt.

Das liegt natürlich nicht nur an den Selbstverteidigungstechniken. Auch das Körpergefühl und das Auftreten verändern sich. Und man komme aus der Opferrolle heraus, sagt Beyer: „Das ist schon die halbe Miete.“ Geschichten von dieser Entwicklung erzählen auch die Tattoos, die seinen Körper übersäen: Auf dem linken Arm spendet ein Drachen Kraft. Auf den Rücken hat er sich den goldenen Schrein von Kyoto tätowieren lassen. Dazu kommen Adler, japanische Berge und Seenlandschaften sowie die Schriftzeichen des „Taidô Ryû Jû Jûtsu“.

Marco Beyer hat aus seiner eigenen Erfahrung einen Beruf gemacht: „Ich möchte Menschen helfen, die in der gleichen Situation sind“, erklärt er. Vor vier Jahren eröffnete er eine kleine Kampfkunstschule, die den Namen „Blindai Dô“ trägt, eine Verknüpfung vom Blindsein zum „Taidô“, dem Weg des Körpers. Blinde müssen sich nämlich anders verteidigen als Sehende. Um etwa den sogenannten „Kirmesschwinger“ abzuwehren, müssen sie den Gegner zunächst zu sich heranziehen. Im Zentrum stehen Hebelgriffe und Ellbogenkontrolle. Geübt werden verschiedene Angriffs-Szenarien.
In der Trainingsstunde im Marburger Bürgerhaus steht gerade die Abwehr von Würgeangriffen auf dem Programm. Die Schüler versuchen, schnell den Kopf auf das Kinn zu ziehen, die Schultern hochzuziehen, eine Hand des Angreifers zu fixieren und den sogenannten Fingerhebel anzusetzen. Weil die Hebelgriffe sehr schmerzhaft für den Gegner sind, lassen sich Angreifer auf diese Weise auch mit wenig Kraft unter Kontrolle bringen. Marco Beyer macht die Übung vor, Christoph Cornehl wird dabei schnell niedergestreckt und murmelt: „Da kann ich machen, was ich will, nämlich gar nichts.“

Die Schüler lernen Ellbogenkontrolle und Transportgriffe. Sie üben, sich gegen stärkere Gegner zur Wehr zu setzen. Und für den Notfall können sie auch Alltagsgegenstände wie Kulis oder Schlüssel benutzen: „So ein Schlüssel kann sehr weh tun, wenn man die Nervendruckpunkte trifft“, sagt Beyer. Die meisten Abläufe sind aber filigran, berichtet er. Man muss sie viele Male üben. „Das ist ein langer Weg“, sagt der 48-Jährige.
Marco Beyer unterrichtet vor allem Menschen mit Handicaps – auch in der Stiftung für Blinde und Sehbehinderte in Frankfurt. Er gibt seine Kunst aber auch an Studierende im Hochschulsport und Jugendliche im Marburger Stadtwald weiter. Und neuerdings ist er bei den Vorschulkindern in Marburg-Michelbach im Einsatz. Polizeischülerinnen und Polizeischüler sensibilisiert er für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Zwischenzeitlich schrieb er eine Autobiografie, um seinen Lebensweg für sich selbst zu verarbeiten: „Das hat mir sehr geholfen“, sagt er. Und mit seinem Blindenführhund Ringo tritt er regelmäßig in Kindergärten und Schulen auf, wo er den Umgang und das Leben mit dem Labrador erklärt.
Ringo ist sein ständiger Begleiter bei den Wegen durch die Stadt. Der Hund schafft auch die Marathons, für die Beyer regelmäßig trainiert. „Er ist wie ein Familienmitglied“, sagt Beyer: „Ich lege mein Leben in seine Pfoten.“
Während des Trainings liegt Ringo brav neben den Matten. Vier- bis fünfmal pro Woche trainiert Beyer, der regelmäßig zu einem Meister seines Fachs nach Gießen fährt. Der Sport mache ihn zufrieden, so sagt er: „Wenn ich nicht auf die Matte kann, bin ich ungenießbar.“

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Rolf K. Wegst