Von Marburgs Dachböden und Schränken direkt in den Ausstellungsraum: Seit Freitag (10. März ) erzählen im Rathaus 35 Exponate von der jüngeren Stadtgeschichte. Sie stammen von den Marburger*innen selbst.

Was haben chinesische Figuren eigentlich mit Marburg zu tun? Und welche Geschichten erzählen das Porzellan aus der einstigen Tiergarten-Gaststätte, der Gong vom Gasthaus Hannes aus Weidenhausen, oder das Bierseidel aus der Marburger Brauerei?
Die neue Ausstellung “Stück für Stück”, die am vergangenen Freitag im Rathaus ihre Vernissage gefeiert hat, berichtet von Episoden aus der jüngeren Stadtgeschichte. Im Zentrum stehen dabei Erinnerungsobjekte, die die Marburger*innen selbst beigesteuert haben – darunter befinden sich Alltagsgegenstände wie Essgeschirr oder Exponate mit einem kolonialisitischen Hintergrund. Das Besondere: Die Leihgeber*innen erzählen in Video- und Audioaufnahmen persönlich, was die Orginale zu einem “Stück Marburg” macht.

Ein Bierseidel aus Bopps Brauerei (Foto: Ingo Becker)

Den Einstieg bildet ein kurioses Objekt: Ein Taxi-Funkbuch von 1962 lädt mit minutiöser Auflistung der Fahrten dazu ein, nächtliche Touren zwischen vergessenen Orten nachzuvollziehen – wie dem „Deutsche Eck“ und dem „Berggarten Marbach“, die beide längst verschwunden sind. Aber auch soziale, demografische oder politische Gegebenheiten in der Stadt spiegeln sich in Erinnerungen wider, ob in der Schublade mit Buttons oder mit der Verbindungsmütze, ob mit Plakaten oder einem Biegeneck-Film. 
Neben verschwundenen Orten lernen Gäste die Lebensgeschichte von Ilse Flachsmann kennen, eine der wenigen Jüdinnen, die sich nach ihrer Deportation und KZ entschied, nach Marburg zurückzukehren. Wie ein Bleistiftspitzer zu Erinnerungen an diese Marburger*in führt? Nicht nur das kann beim Besuch im Rathaus erkundet werden.

Vom Geschirr der Tiergartengaststätte bis zum Mitbringsel von Soldaten

Gleich mehrere Exponate von der Werksjacke bis zur letzten Bierkiste haben die Marburger*innen zur Brauereigeschichte eingereicht. „Draußen stank es immer, aber drinnen roch´s ganz gut!“, erinnert sich eine der Leihgeber*innen an den Schulweg entlang des Pilgrimsteins noch ganz genau.
Doch auch weniger bekannte Orte, sind vertreten – wie der Tiergarten mit Affen und Löwen, der sich in den 30er Jahren östlich von Weidenhausen genau dort erstreckt, wo heute die Autobahn verläuft. Während hier das alte Originalgeschirr der Gaststätte in den Mittelpunkt der Ausstellung rückt, ist vom Gasthof Hannes in Weidenhausen noch der Gong des prominenten Stammtisches „Käsebrod“ erhalten.

Chinesische Puppe (Foto: Sabine Preisler)

Eine Puppe und eine Porzellanfigur aus dem frühen 20. Jahrhundert erinnern darüber hinaus an den Boxeraufstand in China und den Völkermord an den Herero, bei denen auch Marburger Soldaten eingesetzt wurden. Die beiden Objekte aus dem frühen 20. Jahrhundert sind wohl als Mitbringsel nach Marburg gekommen. Heute erinnern sie daran, dass Kolonialismus nicht etwa nur von großen Städten ausging.

Taxi-Funkbuch (Foto: Sabine Preisler)

Perspektivwechsel zur Zeitgeschichte und unsere Rolle darin

„Die historische Ausstellung gibt uns und unseren Gästen auf außergewöhnliche Art und Weise die Gelegenheit, über Zeitgeschichte, unsere Gesellschaft und über unsere eigene Rolle darin nachzudenken. Zugleich können wir neue Perspektiven daraus entwickeln“, erklärt Oberbürgermeister Thomas Spies.

„Wer die 35 Objekte entdecken will, ist also zugleich willkommen, über Wege und neue Perspektiven der Erinnerungskultur nachzudenken“, so Ruth Fischer, Leiterin des Fachdienstes Kultur der Stadt. Sie ist eine der Konzeptgeber*innen der Ausstellung. „Stück für Stück“ habe Werkstattcharakter – und folgt mit seinen Zielen einem Beschluss des Marburger Stadtparlaments. Dieser spricht sich ausdrücklich dafür aus, ein zukünftiges Museumskonzept nicht allein auf bekannte zeitgeschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten zu reduzieren.

Gong aus dem “Gasthaus Hannes” (Foto: Sabine Preisler)

Die Ausstellung hat bis zum 23. April dienstags bis sonntags von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Ort ist der Ausstellungssaal des Rathauses. Der Eintritt ist frei.

LB/pe

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Sabine Preisler und Ingo Becker