Bei der Europawahl geht es in Marburg um die Verkehrswende

Andernorts wird bei der Europawahl über die Zukunft des Kontinents und den möglichen Stimmenzuwachs für die Rechtsextremen diskutiert. In Marburg geht es vor allem um die Verkehrswende. Die Universitätsstadt hat die Europawahl nämlich mit einem Bürgerentscheid verknüpft, bei dem über die Zukunft des Verkehrs in Marburg entschieden werden soll. 

Aber schon die Frage hat es in sich: „Sind Sie dafür, dass das im Rahmen von Move 35 beschlossene Ziel einer Halbierung des Pkw-Verkehrs zugunsten anderer Verkehrsmittelnutzungen weiterhin verfolgt wird?“ Die Formulierung geht auf einen Vorschlag der Grünen und eine ähnliche Idee der CDU zurück. Damit verwarfen sie die Empfehlung von Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD), der etwas neutraler nach der Zustimmung zum Mobilitätskonzept Move 35 fragen wollte. 

Mit dem aktuellen Fragetext sind viele Befürworter der Verkehrswende „unglücklich“, wie Stefan Schulte von der Kampagnengruppe „Ja für eine lebenswerte Stadt“ sagt, in der sich 24 Organisationen zusammengeschlossen haben: „Das spielt denjenigen in die Hände, die angstmacherisch unterwegs sind“, erklärt er. Die Marburger „Psychologists for Future“ trugen das Mobilitätskonzept Move 35 sogar schon symbolisch zu Grabe, weil die positiven Aspekte des Plans in der Frage nicht vorkommen. Weniger Lärm und Abgase, mehr Lebensqualität, mehr Sicherheit, mehr Platz für Busse, Radler und Fußgänger zum Beispiel. Zudem plant das Mobilitätskonzept keine Halbierung der Autos, sondern hofft, durch viele kleine Maßnahmen die Zahl der Wege zu halbieren, die mit dem Auto zurückgelegt werden. Dabei wird nicht zwischen dem Weg zum Bäcker an der Ecke und dem Weg von Schröck zu den Pharmafirmen in Michelbach unterschieden. 

Oberbürgermeister Thomas Spies sieht in dem Bürgerentscheid vor allem eine Möglichkeit, die aufgeregte Debatte zu befrieden, Ruhe in das Thema zu bekommen und eine weitere Eskalation zu vermeiden: „Ich habe das Vertreterbegehren initiiert, weil dieser Streit sonst ewig weitergelaufen wäre“, erklärt er. 

OB Spies und Stadtrat Michael Kopatz (Klimaliste) gehen seit Monaten unermüdlich in Ortsbeiräte, Stadtteile und Informationsveranstaltungen, um über das Mobilitätskonzept aufzuklären. Unterstützung haben sie dabei inzwischen von einem Bündnis aus 24 Initiativen, die sich für die Verkehrswende einsetzen – von den Naturfreunden über Greenpeace, Attac und den „Omas for Future“ bis zum DGB. „Wir haben festgestellt, dass ein relativ großer Prozentsatz noch gar nicht richtig weiß, worüber am 9. Juni abgestimmt wird – zumindest unter den Studierenden“, erläutert Stefan Schulte. Jeden Samstag stehen sie mit Ständen am Hanno-Drechsler-Platz und andernorts, um für mehr Grün, sichere Verkehrswege, gute Busanbindungen und ein „zukunftsfähiges Marburg“ zu werben. Am 31. Mai ab 14 Uhr gibt es unter dem Titel „Let’s Move“ auf dem Marktplatz bunte Aktionen für ein „Ja am 9. Juni“. 

Ihnen stehen die lauteren und wirtschaftlich stärkeren Gegner der Verkehrswende gegenüber, die vor allem bei CDU, FDP, „Bürgern für Marburg“ und den Unternehmern verankert sind. Auch sie bauen jeden Samstag Infostände in der City auf. Es gab Sonderparteitage zum Thema und in jedem Briefkasten Marburgs soll ein Anti-Move-Flyer landen. Auf ihrer Seite stehen Industrie- und Handelskammer, Einzelhändler sowie das Kaufhaus Ahrens, wo jetzt „rote Karten“ für Move 35 ausgelegt werden. 

Eine Prognose zum Ausgang des Bürgerentscheids wagt kaum jemand, obwohl es eigentlich eine klare rot-grüne Mehrheit in Marburg gibt. Bei der letzten Kommunalwahl holten SPD, Grüne, Klimaliste und Linke mehr als zwei Drittel der Stimmen. Als die Move-Gegner im Spätsommer zur Demonstration aufriefen, kamen nur 80 Menschen. Als die Fridays-for-Future-Bewegung kurz darauf für das Klima und für das Mobilitätskonzept demonstrierte, waren es mehr als 1300 Menschen. 

Andererseits haben die konservativen Gegner des Konzepts im vergangenen Sommer rund 7000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt, das dann aus rechtlichen Gründen scheiterte. Der Widerstand äußerte sich vehement in Leserbriefen und auf Social Media. Luisa Ziegler von den „Psychologists for future“ erklärt sich dies vor allem mit „viel Panikmache und Falschinformationen“. Niemandem werde das Auto verboten: „Es werden einfach nur die Bedingungen, die den Autoverkehr bevorteilen, etwas zurückgenommen“, sagt die Psychologin. 

Zornig ist sie über die aktuellen CDU-Plakate, auf denen zum Beispiel zu lesen ist: „Sag nein, damit Oma nicht mit dem Lastenrad zum Arzt nach Marburg muss“. Dabei ist es nach dem Konzept nicht geplant, Parkplätze für Behinderte oder vor Arztpraxen abzubauen. Darauf angesprochen, sagt der CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Seipp, dass nicht jeder Ältere einen Behindertenparkausweis habe und sich auch Ärzte Sorgen um die Parkflächen machten. 

Unterstützung hat die Autofraktion in der Oberhessischen Presse, der Stefan Schulte „sehr tendenziöse Berichterstattung“ bescheinigt: „Als Klimaschützer frustriert es mich, wenn über diese Art der Stimmungsmache versucht wird zu verhindern, dass Marburg bis 2030 klimaneutral wird.“ 

Doch auch Jens Seipp von der CDU sagt zum Ausgang des Bürgerentscheids: „Das wird ein enges Rennen.“ Auf jeden Fall wünschen sich alle Seiten eine hohe Wahlbeteiligung. Es müssen nämlich mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten mit „Nein“ oder mit „Ja“ stimmen. Bei einem knappen Ausgang ist daher eine Wahlbeteiligung von 40 Prozent nötig. 

Allerdings wird das Mobilitätskonzept nicht komplett gestoppt, wenn die Menschen mit Nein stimmen. Schließlich sagen selbst die Konservativen, dass sie den meisten Maßnahmen zustimmen. Zudem haben CDU, FDP und „Bürger für Marburg“ dem Konzept – unter der ohnehin vorgesehenen weiteren Beteiligung der Bevölkerung – zuletzt im Februar im Stadtparlament zugestimmt. 

Bei einem Nein neu diskutiert werden müsse jedoch die Frage, wie stark der Anteil der Autos im Verkehr sinken soll, sagt Spies. Sara Müller von der Bürgerinitiative Verkehrswende hat allerdings ohnehin Zweifel, ob die Maßnahmen aus Move 35 reichen, um den Autoverkehr in Marburg zu halbieren: „Eigentlich müssten noch weitgehendere Schritte eingeleitet werden“, sagt sie. Bislang sieht es nämlich eher nach einem weiteren Auto-Boom aus. Allein innerhalb der vergangenen zehn Jahre stieg die Zahl der Pkw im Kreis von 132.000 auf rund 147.000. So gesehen könnte Move 35 auch dafür sorgen, dass weniger Menschen im Stau stehen. 

Gesa Coordes

Mit Move 35 zur Klimaneutralität

Das Mobilitätskonzept Move35 ist ein mit breiter Bürgerbeteiligung erarbeitetes Rahmenkonzept mit einer Fülle von Vorschlägen für eine ganzheitliche Strategie. Es soll mehr Raum für Grünflächen, Spielplätze, Außengastronomie und Treffpunkte geben. Der Busverkehr soll so unkompliziert werden, dass er auch für Berufspendler aus den Stadtteilen attraktiv wird. Es soll neue und sicherere Radwege und ein intelligentes Parkleitsystem geben, Dahinter steht das Ziel, dass Marburg – nach dem Beschluss der gesamten Stadtverordnetenversammlung – bis 2030 klimaneutral werden möchte. Deshalb soll der Anteil derjenigen, die zu Fuß, mit dem Rad oder dem Bus in Marburg unterwegs sind, erhöht werden. Dennoch betont die Stadtverwaltung: „Keiner muss auf das Auto verzichten. Attraktive, alternative Mobilitätsangebote machen es einfacher, das Auto weniger zu nutzen.“ Deswegen ist auch klar,  dass erst der Nahverkehr ausgebaut wird – geplant ist eine Anbindung der Dörfer im Halbstundentakt. 

Zu den Maßnahmen, die den Autoverkehr betreffen, zählen zum Beispiel:

Parkplätze: Geplant ist der Abbau von Parkplätzen am Straßenrand sowie höhere Parkgebühren. Die Autos sollen vor allem in (Quartiers)-Parkhäusern abgestellt werden. Behindertenparkplätze werden nicht abgebaut. Es soll auch genügend Flächen für Kurzzeitparker – etwa vor Arztpraxen, Apotheken und Geschäften – geben. Freigewordene Parkflächen sollen zu neuen Begegnungsräumen mit Bäumen, Bänken und breiteren Gehsteigen werden. 

Schulviertel: Geplant ist eine versuchsweise Sperrung der Leopold-Lucas-Straße zu Schulbeginn und zu Schulende, um vor allem Elterntaxis zu stoppen, die mit Wende- und Haltemanövern für gefährliche Situationen für die Kinder und Jugendlichen sorgen. Schulleiter und Schülervertreter befürworten den Versuch, der Ortsbeirat Ockershausen ist dagegen, weil er Staus befürchtet. 

Campus-Viertel: In der Innenstadt sollen Biegen-, Deutschhaus- und Robert-Koch-Straße zu Einbahnstraßen werden. Damit soll der Autoverkehr auf die Stadtautobahn gelenkt werden. Die Verkehrsberuhigung soll den Anwohnern, aber auch Geschäften, Restaurants, einem Altenheim sowie Einrichtungen wie die Volkshochschule zugutekommen. Auch die Bedingungen für Radfahrer und Fußgänger sollen sich verbessern. 

Südviertel: Durch Einbahnstraßen und veränderte Wegeführungen soll es nicht mehr möglich sein, das Südviertel mit dem Auto direkt zu durchfahren. So soll etwa die Straße am Grün zwischen Jägerstraße und Schulstraße für den Kfz-Verkehr gesperrt werden. Ziel ist eine Verkehrsberuhigung im Wohnviertel.

gec

Informationen rund um den Bürgerentscheid

Wer sich über das Mobilitätskonzept Move35 und den Bürgerentscheid informieren will, hat neben öffentlichen Veranstaltungen mehrere Möglichkeiten: 

  • Infomarkt: Die Stadt hat eine Ausstellung zu Move 35 zusammengestellt, die bis zum 7. Juni werktags von 9 bis 18 Uhr im Erwin-Piscator-Haus zu sehen ist. 

Webseiten zum Thema:

  • Unter www.marburg.de/move35 hat die Stadtverwaltung den gesamten Bericht sowie sachliche Informationen rund um das Thema zusammengetragen. 
  • Unter www.move35-marburg.de erläutert das Bündnis der Verkehrswende-Befürworter gut verständlich, was es mit Move35 auf sich hat. 
  • Unter www.move35.de hat die konservative Opposition in Marburg ihre Sicht auf Move35 und den Bürgerentscheid dargelegt. 
Bild mit freundlicher Genehmigung von Georg Kronenberg