Alltag von ukrainischen Schülerinnen und Schülern in der Richtsberg-Gesamtschule

Sie erzählen von ihrer Flucht, lernen deutsche Adjektive und spielen Kofferpacken: An der Marburger Richtsberg-Gesamtschule werden 14 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine unterrichtet. Dabei hilft ein besonderes Raum- und Zeitsystem.

Es ist Dienstagmorgen, 8 Uhr: Durch die breiten Flure der Schule schlendern und rennen nicht nur deutsche, sondern auch ukrainische Kinder. Manche schreien, einige flüstern. Zwei Mädchen spazieren Arm in Arm. Sie sind auf dem Weg in die Lernlandschaften und Lernateliers. Wo genau sie hingehen, ist den meisten Kindern selbst überlassen. Fest steht nur, dass sie nicht in traditionellen Klassenräumen unterrichtet werden. Stattdessen wird in offenen Räumen mit buntem Teppichboden auf Stühlen, Sofas oder Sitzsäcken liegend oder sitzend und immer mit einem iPad in der Hand gelernt. In vielen dieser Räume sind Gespräche erlaubt und sogar erwünscht. Nur in den Lernateliers sitzen die Schülerinnen und Schüler mucksmäuschenstill und konzentriert an ihrem persönlichen Schreibtisch, der neben vielen anderen, kleinen Schreibtischen steht. Die ukrainischen Geflüchteten haben noch keinen Unterricht in diesen Räumlichkeiten. Sie sind irgendwo in den verschachtelten Gängen unterwegs zu ihren traditionellen Klassenzimmern, in denen sie intensiven Deutschunterricht haben – alle bis auf zwei Mädchen. Die Freundinnen nehmen heute ausnahmsweise am regulären Unterricht in den Lernlandschaften teil.

„Das nennt sich Teilintegration und ist ein Schritt hin zur Vollintegration, sodass die Kinder später keinen Kulturschock bekommen“, erklärt Maike Dengler. Sie ist Klassenlehrerin, im Schul-Jargon des Richtsbergs „Lernbegleiterin“, der ukrainischen Integrationsklasse und steht am Lehrerpult des Klassenzimmers. Die Glocke zur ersten Stunde läutet. Auf roten Plastikstühlen sitzen die ukrainischen Schülerinnen und Schüler. Die junge Lehrerin erklärt den Kindern ihre Aufgabe: Adjektive und Stillarbeit. „In einer halben Stunde besprechen wir die Ergebnisse“, sagt sie. Maike Dengler baut viele Einzelarbeitsphasen ein, in denen die Kinder in ihrer eigenen Geschwindigkeit arbeiten könnten. Die 19 Kinder sind zwischen zehn und 15 Jahre alt, was eine weitaus größere Alterspanne ist, als sie in regulären Klassen zu finden ist. Dabei helfen iPads. In den Händen halten sie alle eins – nicht nur die Lehrerin. „Jedes Kind an unserer Schule hat ein iPad. Die meisten Kinder kaufen sie sich selbst. Meine Klasse hat ihre jedoch vollständig vom Medienzentrum der Stadt Marburg gesponsert bekommen„, sagt Dengler. Auf den iPads finden sich Unterrichtsmaterialien, die Kommunikation über die Schul-Cloud mit der Klasse – fast wie WhatsApp, aber in einem geschützten Raum. Das iPad war für die Ukrainer zu Beginn besonders wichtig, denn Dengler spricht weder Russisch noch Ukrainisch. Die Kinder haben dann Bilder rausgesucht und dazu die deutschen Wörter geschrieben, sodass Dengler eine Möglichkeit zur Korrektur hatte, ohne die Sprache der Kinder zu beherrschen. „Drei oder vier konnten gut Englisch, das hat auch geholfen“, sagt sie.

Auch heute wird mit Bildern gearbeitet. Neben dem Pult steht ein Bildschirm, der größer ist als die Tafel. Dengler schaltet den Fernseher an, auf dem Arbeitsblätter vom iPad aus projiziert werden können. Zu sehen sind Bilder von einem Mädchen, einer Katze, einem Frosch, und darunter eine leere Zeile, der Adjektive zugeordnet werden sollen.

Die Lehrerin fragt einen Jungen, welches Adjektiv aus dem Pool an Wörtern auf dem Arbeitsblatt zu der daneben abgebildeten Katze passt. Sein Blick wendet sich nach unten, seine Hände verschränken sich vor seinem Körper. Eine etwas ältere Schülerin erklärt dem Jungen etwas auf Ukrainisch oder Russisch. Er schaut auf und antwortet: „dick, die Katze ist dick.“ Es wird gekichert. Die Antwort ist richtig. „Die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder sind schnell gewachsen, auch weil sie sich gegenseitig sehr viel helfen. Heute verstehen sie sehr viel, manche fast alles“, Meike Dengler unterbricht sich und strahlt einen ihrer Schüler in der letzten Reihe an, „Gell?“ Der großgewachsene Schüler bringt zwischen seinen grinsend zusammengedrückten weißen Zähnen ein „Ja“ hervor. 

Um 9.35 Uhr klopfen die beiden ukrainischen Mädchen an der Tür des Klassenraums, die heute bereits in den regulären Klassen waren. Wie alle Kinder der Gesamtschule tragen sie Ausweise um den Hals. Deshalb dürfen sie sich relativ frei auf dem Gelände bewegen. Von Lernatelier zu Lernlandschaft wandern sie alleine, lassen sich jetzt jedoch auf den Stühlen im Klassenzimmer der ukrainischen Intensivklasse nieder.

Links an der Wand hängen bunte Plakate mit Städtenamen drauf: Kiew, Dnipro und Chmelnyzkyj, Lwiw und Poltawa haben die Kinder mit Buntstift in Druckbuchstaben auf Plakate geschrieben. Die Plakate sind mit einer Karte der Ukraine verbunden, die von den Kindern mit Bleistift umrandet und mit gelben sowie blauen Farben ausgefüllt wurde. Weiße Fäden verbinden die Städteplakate mit dem Ort, an dem sie auf der Landkarte der Ukraine zu finden sind. Sie wirken wie ein Spinnennetz, das alle Städte zusammenhält. „So haben wir angefangen über die Ukraine zu reden“, sagt Dengler: „Sie sollten sich gegenseitig erzählen, was sie an ihrer Heimatstadt besonders mögen und das auf den Plakaten verewigen. Das waren schwere und schöne Gespräche zugleich.“ Die Lehrerin steht vor der Tafel, neben der ein großes Plakat mit zwölf bunten Muffins zu sehen ist. In den bunten Küchlein stecken Kerzen, die mit den Namen der Schüler beschriftet sind, die in dem jeweiligen Muffin-Monat Geburtstag haben.

Am Ende der ersten Doppelstunde dürfen sich die Kinder Spiele wünschen, die vor der Pause gespielt werden können. „Solche lockeren Phasen erlauben die der Konzentration“, sagt Dengler. Die Kinder entscheiden sich für das sogenannte Daumen-Drücken. Vier Kinder springen hoch und reihen sich vor dem Lehrerpult auf. Sie alle legen nun ihren Kopf auf den linken Arm, sodass sie mit ihrer Stirn fast den Tisch berühren. Vor dem Kopf wird der rechte Arm positioniert und der Daumen ragt aus jeder der Faust heraus. Maike Dengler spielt dazu deutsche Musik. „Hallo Lieblingsmensch! Ein Riesenkompliment dafür, dass du mich so gut kennst“, tönt Namikas Song aus den Lautsprechern. Die junge Lehrerin erklärt, dass auch hierdurch gelernt werden kann. Während des Spiels kommt ein Junge im giftgrünen Hoodie mit seinem iPad zu seiner Lernbegleiterin. „Ja?“, fragt sie. Der Bildschirm ist erleuchtet und lässt den Google Übersetzer erkennen. Ein Satz ist eingetippt: „Wann fängt die Nachmittagsbetreuung an?“ Maike Dengler blickt drauf, nimmt das schwarze Gerät in die Hand und tippt eine Antwort ein. In der zweiten Doppelstunde wird zum dritten Mal auf Deutsch gefragt, ob der jeweilige Schüler auf die Toilette gehen darf – „diesen Satz können sie gut sagen“, kommentiert Dengler lächelnd. Zwischendurch fragt ein Junge, warum seine Lernplattform sich nicht aktualisiert: „Du hast kein Internet“, antwortet die 29-Jährige. Das sei der große Nachteil, wenn das Internet oder iPad nicht funktioniere, fehle ein großer Teil des Unterrichtsmaterials.

Am Ende der zweiten Doppelstunde dann das zweite Spiel: „Ich packe meinen Koffer und nehme mit…“  Dengler erklärt, dass der Wortschatz sich bei diesem Spiel auf spielerische Weise erweitere. „Das sieht man daran, dass alles Mögliche eingepackt wird, nicht nur die Dinge, die die Kinder vor ihrer Nase haben, wie die Fenster oder ihr Wasser, sondern die Dinge, die ihnen in ihrer Fantasie vorschweben: Afrika, ein Spiegel und manchmal werde auch ich eingepackt.“ Eine Sache, die heute „eingepackt“ wird, ist „die Mama“. So sind sie auch alle hergekommen: mit ihrer Mutter im Gepäck, die meisten ohne Vater. Einige mit nicht viel mehr.

Leonie Theiding

Info

In Marburg besuchen geflüchtete Kinder die sogenannten „Intensivklassen“, in denen das Erlernen der deutschen Sprache im Mittelpunkt steht. Das Staatliche Schulamt Marburg betont, wie wichtig der frühzeitige Spracherwerb für die Geflüchteten ist: „Das Beherrschen der deutschen Sprache beeinflusst entscheidend den Erfolg von Kindern und Jugendlichen in Schule und Beruf und ist damit Voraussetzung für eine gelingende Integration.“ 

Insgesamt beherbergen sieben Grundschulen, sieben weiterführende und zwei Berufliche Schulen in Marburg 31 dieser Intensivklassen. Dort werden insgesamt 527 Schülerinnen und Schülern unterrichtet. Davon stammen 225 aus der Ukraine. Zwischen 18 und 28 Stunden Unterricht erhalten die Kinder. Dabei hängt die genaue Stundenanzahl von der Schulform ab. Die in der Reportage dargestellte ukrainische Intensivklasse an der Marburger Richtsberg-Gesamtschule zählt zu den weiterführenden Schulen, in denen die ukrainischen Kinder 22 Stunden die Woche in Deutsch unterrichtet werden sollen.

Nach Auskunft des Staatlichen Schulamts Marburg haben die ersten ukrainischen Schülerinnen und Schüler inzwischen die Intensivklassen verlassen und nehmen nun vollständig am Regelunterricht teil. Sie hätten ein Niveau in der deutschen Sprache erreicht, das ihnen erlaubt, dem regulären Unterricht zu folgen, auch wenn ihre Sprachkenntnisse weiterhin ausbaufähig seien.

Leo

Bild mit freundlicher Genehmigung von Leonie Theiding