Noemi Ristau beendet ihre Sportlerkarriere mit mehr als 100 Medaillen.

Für Noemi Ristau war es ein Gefühl von Freiheit. Schneebedeckte Berge rasant hinunterzusausen, mochte sie schon als kleines Kind. Später raste sie mit mehr als 100 Stundenkilometern über die Pisten. Die Para-Athletin mit Seh-Handicap gewann den Gesamtweltcup im alpinen Skisport, holte Bronze bei der Weltmeisterschaft und stand auf der Weltrangliste auf Platz 1. Dabei ist Noemi Ristau fast blind. Ihre Sehkraft liegt bei zwei Prozent.

Das Skifahren lernte sie schon als Dreijährige in der Nähe von Garmisch kennen, der Heimat ihres Vaters. Damals konnte sie noch normal sehen. Zwei- bis dreimal im Jahr fuhr die Familie zum Skifahren. Mit 13 musste sie den Sport jäh unterbrechen, weil die Augenerkrankung Morbus Stargardt bei ihr ausbrach. Innerhalb von wenigen Jahren verlor sie ihr Sehvermögen fast komplett. Mit 15 wechselte sie an die Marburger Blindenstudienanstalt, wo sie rasch lernte, möglichst alles selbstständig zu managen. „Durch die Blista konnte ich den Sehverlust gut annehmen“, sagt Ristau. Schon im ersten Jahr entdeckte sie das Skifahren wieder – bei der Skifreizeit der Schule.

Nach dem Fachabitur wollte sie aber erst einmal die Welt entdecken. Ein Jahr lang arbeitete sie im Freiwilligendienst in einer Blindenschule für Mädchen im indischen Puna. Anschließend reiste sie mit der kleinen Schwester und einer Freundin quer durch das Land. Zurück in Deutschland wollte sie wieder Ski fahren: „Das ist ganz anders, als etwa im Tandem Fahrrad zu fahren. Ich habe mich immer sehr glücklich auf Schnee gefühlt.“ Über den Skiclub Blau-Gelb Marburg kam sie zu einem Sichtungslehrgang für die Para-Nachwuchsmannschaft. Sie wurde sofort aufgenommen. Fast zeitgleich startete sie eine Ausbildung als Ergotherapeutin.

Zu ihren Begleitläufern – den Guides – wurden die ehemaligen Skirennfahrer Lucien Gerkau und seine Frau Luise. Auf der Piste sind sie ihre Augen, fahren voran und geben per Headset Anweisungen, damit die sehbehinderte Sportlerin unfallfrei den Berg herunterkommt. Schließlich fährt Noemi Ristau fast vollständig nach Gehör. Nur die knallbunten Jackenfarben ihrer Guides kann sie manchmal im Augenwinkel erkennen. Schon 2016 gewann sie ihren ersten Europacup.

2017 – kurz vor ihrem Abschlussexamen als Ergotherapeutin – trat sie bei der Weltmeisterschaft im italienischen Tarvisio an und wurde Dritte im Slalom. Damit erhielt sie zugleich einen Platz im deutschen Nationalteam. Das machte den Spagat zwischen der Suche nach Sponsoren und Stipendien und dem Skifahren leichter. Nach Abschluss ihrer Ausbildung – auch die schaffen Blinde fast nie – wurde sie hauptberuflich Skiläuferin. Mit den Trainingscamps der Nationalmannschaft stand sie 120 Tage im Jahr auf Skiern, verbrachte mehr Zeit in den Alpen und den Bergen Nordeuropas als in Marburg, wo sie vor allem im Sommer „durchatmen“ konnte. Beim World Cup im Februar 2018 in Kanada gewann das Team im Super-G. „Das Besondere am Skifahren ist für mich das Freiheitsgefühl und die Geschwindigkeit“, sagt Ristau.

2019 vermittelte ihr der hessische Skiverband Paula Brenzel als neuen Guide. Die beiden jungen Frauen harmonierten gut. „Wir sind Freundinnen“, sagt Noemi Ristau. Zweimal war sie bei den Paralympics dabei – 2018 im südkoreanischen Pyeongchang und 2022 im chinesischen Peking, wo sie den vierten Platz in der Abfahrt und im Riesenslalom holte. Insgesamt viermal landete sie unter den Top fünf, einmal auf Platz sieben. Und in ihrer gesamten Karriere holte sie mehr als 100 Medaillen. 2018 war sie Behindertensportlerin des Jahres. Gemeinsam mit Paula Brenzel wurde das Duo zur „Mannschaft des Jahres“ beim Landessportbund Hessen. „Es war für mich eine Ehre“, sagt Ristau.

Doch zahlreiche Verletzungen an Knöchel, Schulter und Knien warfen sie immer wieder zurück: Brüche, Bänderrisse, Operationen, Reha und zuletzt ein Meniskus-Riss beim ganz normalen Training. „Mein Körper wollte nicht mehr“, sagt die 32-Jährige. 2024 nahm sie Abschied vom Leistungssport. Es ist ihr schwer gefallen, weil sie gern noch eine Medaille bei Olympia gewonnen hätte. Doch nachdem auch die Ärzte ihr von weiterem Profisport abrieten, zog sie einen Schlussstrich.

Noemi Ristau hat nun wieder Zeit für Hobbies und Freunde. Foto: Gesa Coordes

Zeit für neue Wege: Inzwischen arbeitet sie beim Gießener Zoll, der ihren Sport in den vergangenen Jahren gefördert hat. Es gefällt ihr überraschend gut in der Personalabteilung, in der sie nun als Sachbearbeiterin tätig ist. „Das ist ein gutes Team“, freut sie sich. Vor allem ist es ihr aber auch wichtig, nach den anstrengenden Jahren als Leistungssportlerin wieder regelmäßig und unkompliziert Freunde und Familie treffen zu können. Kürzlich ist sie Patentante geworden.

Gemeinsam mit ihrer Freundin ist sie in eine größere Wohnung in Marburg gezogen. In einer Vitrine stehen ihre Medaillen. Die Skier haben einen Schrankplatz im Flur, wo sie auf den ganz privaten Wiedereinsatz im kommenden Jahr warten. Nach wie vor geht sie drei- bis viermal in der Woche ins Fitness-Studio, joggt viel, schwimmt gern. Vor kurzem hat sie das Skaten und Mountainbiken für sich entdeckt: „Es ist schön, nicht mehr so auf Leistung trainieren zu müssen“, sagt Ristau. Aber sie kocht auch gern – Quiche vor allem, mäht den Rasen und zieht Tomaten.

Im Herbst ist sie gemeinsam mit Paula Brenzel im „Nachtcafé“ aufgetreten, der preisgekrönten Talkshow des SWR. Titel: „Nicht ohne dich“. Moderator Michael Steinbrecher interviewte die Sportlerinnen zu der Frage, wie das gemeinsame Skifahren funktioniert, wie sie sich untereinander verständigen und wie viel Vertrauen man braucht: „Das war ein schöner Abschluss“, sagt Noemi Ristau.

Gesa Coordes

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Ralf Kuckuck und Gesa Coordes