Notarzt Christian Kreisel ist der Motor einer Klinik-Partnerschaft mit Tansania.

„Das ist mein zweites Zuhause“, sagt Christian Kreisel über Tansania. Zwölf Jahre ist es her, da war der Marburger Notarzt zum ersten Mal in dem ostafrikanischen Land. Damals war er noch Student und forschte über die Höhenkrankheit. Sechsmal bestieg der begeisterte Bergsteiger den knapp 6000 Meter hohen Kilimandscharo. Und er arbeitete während seines neunmonatigen Aufenthalts im Norden Tansanias zugleich in einem kleinen Krankenhaus in Kibosho am Fuß des legendären Bergmassivs.
„Extrem freundliche und fröhliche Menschen“ sind ihm begegnet. Um zu erklären, wie das Gesundheitssystem in Tansania funktioniert, muss der heute 46-Jährige etwas ausholen. Nur 15 bis 20 Prozent der Menschen sind krankenversichert. Und sie haben auch nur wenig Vertrauen in die Schulmedizin. Das bedeutet, dass sie erst zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen, wenn es gar nicht mehr anders geht. „Sie kommen mit einem Tumor erst, wenn er riesig ist“, sagt Christian Kreisel. Er lernte Tollwut-Fälle kennen. Und er kümmerte sich um HIV-infizierte Kinder und Jugendliche. Kreisel war beeindruckt, wie viel seine tansanischen Kollegen trotz beschränkter Mittel leisten. Aber es trieb ihn auch um, dass ein junger Mann nach einem Verkehrsunfall am zweiten Weihnachtsfeiertag starb, weil kein Ultraschall gemacht worden war. Der Verletzte hatte einen nicht entdeckten Milzriss und war innerlich verblutet.
In Tansania, wo kein TÜF existiert, gibt es ohnehin sehr viele Verkehrsunfälle. Christian Kreisel zeigt Fotos von völlig überladenen Motorädern, auf denen hinter dem Fahrer noch vier große Mehlsäcke gestapelt sind, auf denen ein Mann obenauf sitzt – natürlich alle ohne Helm. Er hat auch schon Zweiradfahrer gesehen, die lebende Schweine auf ihren Schößen transportierten.

Die Begegnung mit den Unfallopfern war einer der Gründe, warum er nach seiner Rückkehr nach Deutschland und dem Facharzt für Allgemeinmedizin auch noch Notarzt wurde. Fünf Jahre hat er in der Notaufnahme des Universitätsklinikums Marburg und Gießen gearbeitet. Und zugleich versuchte er, Unterstützung für die Klinik in Tansania zu organisieren, gründete einen Verein und organisierte Ultraschall-Kurse.
Gleich bei seinem ersten Besuch in Tansania – noch als Student – lernte er seine heutige Ehefrau Irene kennen. Sie arbeitete ganz in der Nähe der Klinik auf einer Baustelle, um sich Geld für ein Hotelmanagement-Studium zu verdienen. Das Bild, wie sie auf einem wackeligen Holzgerüst einen schweren Stahlträger auf ihrem Kopf balancierte, hat er noch heute gut im Kopf. Ein Jahr später kam sie – zunächst als Aupair – nach Marburg. Dann machte sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau in einem Fünf-Sterne-Hotel.
In Irenes Heimatdorf betrachtete man den Muzungu, den weißen Mann, zunächst mit Misstrauen. Es wurde behauptet, dass er schon eine Familie in Deutschland habe, um die beiden auseinanderzubringen. Inzwischen ist das Paar seit sechs Jahren verheiratet und hat zwei Töchter. Irene machte noch eine Ausbildung als Rettungssanitäterin in Marburg, ihrem heutigen Beruf. Christian Kreisel spricht inzwischen Kisuaheli. Und als sie im vergangenen Jahr noch einmal nach dem Ritus ihres Heimatdorfs heirateten, erhielt er den Namen „Swai“ – starker Ast.

Er ist jedenfalls der Motor der Klinik-Partnerschaft zwischen dem „Kilimanjaro Christian Medical Centre“ in Moshi und dem Marburger Fachbereich Medizin, die er gemeinsam mit dem Marburger Medizinprofessor Harald Renz 2018 initiierte. Ziel ist die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in der Kilimandscharo-Region. Bei dem sowohl von der evangelischen Kirche als auch vom Gesundheitsministerium getragenen Universitäts-Krankenhaus handelt es sich um die zentrale Klinik für Nordtansania. Dazu gehört ein College mit knapp 2000 Studierenden. Mit Unterstützung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und des Entwicklungshilfeministerium wird dort nun die Lehre im Bereich der nicht-übertragbaren Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Herzinfarkt und Schlaganfall vorangebracht.
In der Folge baute Kreisel mit Unterstützung des DAAD einen Masterstudiengang Notfallmedizin in Moshi auf. 2024 wurden die ersten Studierenden aufgenommen, die damit ihren Facharzt in der Notfallmedizin machen. Kürzlich waren vier Studierende aus Moshi für einige Wochen in Marburg, um im Rettungsdienst und der Notaufnahme zu hospitieren sowie Kurse zur Traumaversorgung zu absolvieren.

Einen mobilen Rettungsdienst wie in Deutschland gibt es in Tansania praktisch nicht, erläutert Kreisel. Schwer Verletzte werden mit privaten Autos oder auf Pick-ups ins nächste Krankenhaus gekarrt. Wenn dieses nicht für die Versorgung des Verletzten ausgestattet ist, geht es weiter. Es fehlen aber klare Regeln – etwa, dass vor einem stundenlangen Weitertransport Blutungen gestoppt oder der Kreislauf stabilisiert werden muss. Hier setzt Kreisel auf die jungen Leute, die nach ihrem Studium auch in die peripheren Krankenhäuser gehen werden, um solche Standarts einzuführen. „Das Wichtigste ist, die vorhandenen Ressourcen optimal einzusetzen und die Ärzte daran auszubilden“, sagt Kreisel. Das gilt jetzt noch verschärft, weil der plötzliche Stopp von USAid ein Loch von mehr als 400 Millionen Euro im Gesundheitssystem von Tansania gerissen hat.
Aber auch die Marburger profitieren von der Partnerschaft. Seit 2018 gingen mehr als 20 Studierende zum Austausch nach Tansania, ebenso viele Ärztinnen und Ärzte. „Wir können unglaublich viel von den Kollegen vor Ort lernen“, weiß Kreisel, der derzeit neben seiner Notarzt-Tätigkeit an einem Forschungsprojekt zu Lungenerkrankungen im Universitätsklinikum Marburg mitarbeitet.

Aber auch an der Höhenkrankheit forscht er weiter. Sein zentraler Tipp für Menschen, die große Höhen besteigen wollen: Man sollte sich mehr Zeit nehmen als die fünf bis sechs Tage, die Reiseveranstalter für den Aufstieg am Kilimandscharo veranschlagen, damit sich der Körper an die Höhe gewöhnen kann. Ihn selbst hat die Höhenkrankheit nur einmal erwischt, obwohl er schon während seiner Ausbildung zum Physiotherapeuten in Konstanz quasi alle Alpengipfel bestieg. Und am Kilimandscharo leidet jeder zweite Bergsteiger unter Übelkeit, Erbrechen, hämmernden Kopfschmerzen bis hin zu Hirn- und Lungenödemen.
Trotzdem träumt auch Marburgs Oberbürgermeister Thomas Spies davon, den majestätischen Berg zu besteigen. 2023 reiste nämlich auch die Stadtspitze nach Tansania, um eine Städtepartnerschaft zwischen Marburg und Moshi zu besiegeln. Seitdem wächst die Zusammenarbeit weiter. Christian Kreisel initiierte den Direktimport von Kaffeebohnen, die nun in Marburg geröstet werden und in einem Café probiert werden können. Projekte zur digitalen Medizin sind geplant.
Zudem gibt es Gruppen von Architekten und Bauherren aus Marburg und Moshi, die sich für den Bau von modernen Lehmhäusern mit einem guten Wohnklima einsetzen. Heute wird in Tansania normalerweise mit Zement gebaut, was teurer und klimaschädlicher ist. Kreisel möchte auch selbst ein Lehmhaus in seiner Wahlheimat bauen. Ein Grundstück hat er schon gekauft. Wenn alles gut geht, zieht die Familie in einem Jahr nach Tansania.

Gesa Coordes

Bilder mit freundlicher Genehmigung von privat, Georg Kronenberg | Marbuch Verlag GmbH und Gesa Coordes