Im Publikum und auf der Bühne sind nur Flinta-Personen – Das ist das Konzept von „Our Stage“, die offene Bühne, die Musikerin Tina Kuhn (50) mit ihrem Kollektiv jeden ersten Mittwoch im Monat im Café Trauma organisiert: Von Flinta-Personen für Flinta*-Personen. Warum es eine solche Bühne braucht, erklärt die freiberufliche Musikerin und Musiklehrerin im Express-Interview.

Express: Warum braucht die Musikindustrie ein Konzept wie „Our Stage“?

Tina Kuhn: Meine beiden Brüder sagen bis heute, dass Männer einfach die bessere Musik machen. Ich würde denen gerne zeigen, dass das nicht stimmt. Dafür muss man Flinta*-Personen auf die Bühne lassen und ihnen die Chance geben, sich zu entwickeln. Dann würde sich zeigen, dass das, was meine Brüder sagen, nicht wahr ist. Ich hoffe, dass das Geschlecht irgendwann egal ist. Wer behauptet, dass das Geschlecht heute egal ist, der lügt.

Ist die Marburger Musikszene wenigstens feministisch?

Ne (lacht)! Die meisten Bands und Gruppen, die ich kenne, haben dafür nicht wirklich ein Bewusstsein. „Bewusstsein“ – da geht es mir um Gender-Konforme-Sprache oder wenn es um die Auswahl neuer Bandmitglieder geht, eine Flinta*-Person in Erwägung zu ziehen. Die meisten Marburger Bands bestehen immer noch hauptsächlich aus Männern.
Das feministische Bewusstsein seh‘ ich nur einen Hauch kommen. Bei ‘Our Stage’ und auch beim ehemalige ‘Mano’-Festival, heute ‘StäPs’, gibt es ein paar tolle Frauen und Männer, die sich für vieles einsetzen, aber die sind in der Minderheit. Da geht noch mehr.
Deswegen möchte ich mit ‘Our Stage’ einen freien Raum schaffen, wo man sich ausprobieren sowie entdecken kann – das ist mein Steckenpferd, das lieb ich sehr.

Die „Our Stage“ soll einen sicheren Raum bieten, um sich auszuprobieren.

Wieso liegt dir das so am Herzen?

Ich geb‘ seit vielen Jahren Gitarrenunterricht und meine Erfahrung ist, dass Jungs sich mit dem bisschen, was sie können, viel schneller trauen, sich zu zeigen, während Mädchen dazu tendieren, sich mit Perfektionismus und Unsicherheiten im Weg zu stehen. Ich habe viele Jahre im Jugendhaus Compass mitgearbeitet. Mein Steckenpferd war, Mädchen dazu zu kriegen, dass sie zeigen, was sie können. Als ich dort aufgehört habe, habe ich wieder versucht, mehr Musik zu machen. Ich habe dann gemerkt, wie schwierig es ist, als Frau, als Flinta*-Person, mit dem eigenen Können ernstgenommen zu werden.
Nicht nur sind es nur die Menschen – meistens Männer – um mich herum, die mir nichts zutrauen, sondern ich selber auch. Da kam mir diese Stage in den Sinn.

Du hast eben gesagt, dass sich Mädchen und Frauen weniger zutrauen. Woran machst du das fest?

Das sind zwei Aspekte. Zum einen habe ich selber in meiner Familie mitbekommen, dass ich im Haushalt anders Verantwortung tragen muss als meine Brüder. Meine Mutter hätte heute geschworen, dass sie uns alle gleich erzogen hat, aber ich war die, die viel schneller in der Küche mithelfen musste. Als mein kleiner Bruder geboren wurde, musste ich ihn hüten, obwohl ich gerade mitten in der Abiturzeit war und auch einen größeren Bruder hatte. Das war ganz klar, dass ich da herhalten musste – nicht mein großer Bruder. 

Und was war der zweite Aspekt, von dem du eben sprachst?

Das andere war während meiner Schulzeit. Ich habe ja während meiner Schulzeit schon Gitarre gelernt und hatte so ein Stipendium, das auch noch drei andere hatten: eine junge Frau und zwei Jungs. Die Jungs sind ganz anders unterstützt worden als das Mädchen und ich.

War das ein Einzelfall? 

Nein, solche Vorfälle hab‘ ich in meiner Laufbahn oft erlebt, was auch damit zu tun hat, dass ich eine Frau bin, die lesbisch ist, die keine langen Haare hat. Außerdem bin ich schon immer korpulent – ich bin schon immer übergewichtig. In Musikerkreisen wurde mir nach einer Gewichtsabnahme entgegengebracht: „Jetzt kann man dich ja ernst nehmen. Jetzt kann man mit dir auf der Bühne stehen“ – wegen meiner Gewichtsabnahme! Ich habe vorher genauso gut Gitarre gespielt. Die Gewichtsabnahme hat an meinem musikalischen Können nichts geändert.

Tina Kuhn: „Meine beiden Brüder sagen bis heute, dass Männer einfach die bessere Musik machen. Ich würde denen gerne zeigen, dass das nicht stimmt.“

Hilft ‘Our Stage’ denn bei solchen Fällen?

Ja, es gibt zum Beispiel eine junge Frau bei uns, die seit unserem ersten ‘Our Stage’-Abend dabei ist. Die ist mit uns zum ersten Mal mit der E-Gitarre auf die Bühne gegangen. Sie hatte da bereits ein paar Erfahrungen in anderen offenen Bühnen und Jam-Sessions gesammelt. Da sind ihre andere sehr gönnerhaft und unfreundlich begegnet. Das ist eine sehr hübsche, junge Frau. Der wurde dann gezeigt, wie irgendwas geht – mit viel zu viel Annäherung und es wurde nicht nach ‘Consent’ gefragt. Ihr war das super unangenehm. Und man hat sie nicht wirklich mitmachen lassen. Bei uns auf der Stage hatte sie die Freiheiten, sich auszuprobieren. Ich bin zwar Lehrerin, aber ich habe ihr nur geholfen, wenn sie gefragt hat. Und davor habe ich sie ausprobieren lassen. Das ist ja der Sinn von unserer Stage. Im Mai gibt es unsere Stage ein Jahr. Seit einem halben Jahr steht diese junge Frau auch auf anderen offenen Bühnen und kann besser ‘nein’ sagen: “Nein, ich möchte keinen Kontakt. Nein, ich möchte von dir nichts lernen, ich möchte spielen.“ Mittlerweile spielt sie auch in einer Combo und ist da ein voll anerkanntes Mitglied und fühlt sich pudelwohl.

Also brauchte sie einfach etwas, wo sie anfangen kann?

Ja und wo sie sich unter ihren Bedingungen ausprobieren kann, wo sie Fragen kann, ohne gleich überbetüdelt zu werden. Wenn ich als Musikerin auf eine offene Jam-Session gegangen bin, dann hatte das immer etwas von einem Battle. Es ging immer darum, wer der Bessere ist. Darum geht’s bei uns nicht, sondern darum, wie wir miteinander kommunizieren. Musik machen macht Spaß und wenn ich jetzt eine halbe Stunde nur mit einem Akkord mit wem anders spiele, dann bin ich glücklich.

Vielleicht könnten das auch unsichere Männer gebrauchen. Wieso sollen die da nicht mitmachen?

Ich spiele auch sehr gerne mit Männern, habe auch Best-Buddies. Aber – so lieb sie sind – haben sie eine andere Sozialisation, so wie meine Brüder. Meine Mutter würde sagen, dass sie meine Brüder genauso erzogen hat wie mich und das stimmt halt nicht und so ist es mit diesen Männern auch. Die Männer, die in meiner Band spielen, die haben eine andere Selbstverständlichkeit, sich zu zeigen, als die Flinta*-Personen zum größten Teil haben, deswegen brauchen wir diesen Safe-Space. Ich weiß, dass die meisten Männer, die ich kenne, das nicht so sehen.

Was würde sich am Flinta*-Safer-Space verändern, wenn Männer dazukommen würden?

In die letzte Flinta*-Bühne vor Weihnachten und vor den Sommerferien laden wir all-gender-Publikum ein. Es war aber eine andere Stimmung. Meiner Meinung nach haben sich die Teilnehmenden weniger getraut. 

Was meinst du mit „Safer-Space“?

Dass wir auch bei den Flinta*-Bühnen nie einen Safe Space garantieren können, deswegen nenne ich es „Safer-Space“. Wir hatten auch schon Konflikte. Einmal sind zwei Freundinnen von mir zur Stage gekommen und die haben so bewertende Sprüche gebracht: ‚Oh, die war aber gut. Oh, die hätte ja jetzt nicht unbedigt auf die Bühne gemusst‘ – das ist kein Safe-Space, man muss sich doch entwickeln können!
In unserem Safer-Space geht es ja genau darum, dass wir nicht bewertet werden. Es geht darum, dass wir gewollt sind und uns ausprobieren können, dass wir Kritik positiv formulieren können – also es geht auch um die Art der Kommunikation. Es ist nicht so, dass wir sagen, “die war großartig”,  wenn sie es nicht war, aber es gibt irgendwas, was dieser Mensch toll gemacht hat und das können wir mit in die Kritik packen.

Interview: Leonie Theiding


Flinta*

…steht für F-rauen, L-esben, I-ntersexuelle, N-icht-binäre, T-rans und A-gender-Personen, wobei das Sternchen am Ende von „Flintaalle weiteren Menschen einbezieht, die nicht der binären, heterosexuellen Geschlechternorm entsprechen. Tina Kuhn ist überzeugt, „dass es Räume geben muss, wo Flinta-Personen ihre Unsicherheiten stehen lassen können, wo sie sich im Safer-Space sicherer fühlen.“

Leonie Theiding

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Georg Kronenberg und Karolina Grabowska / Pexels