In der neu eingerichteten Küche des altehrwürdigen Gemäuers treffen sich unterschiedliche Nationalitäten zum Koch-Workshop. Im Gewölbekeller finden Lesungen und Diskussionsrunden statt. Es gibt einen sonntäglichen inter­nationalen Frauenbrunch, gelegentlich Konzerte – und viele weitere Ideen für die zukünftige Nutzung: In den lange weitgehend leerstehenden Kerner ist wieder Leben eingekehrt. Das im 13./14. Jahrhundert als Kapelle und Beinhaus errichtete markante Gebäude am Lutherischen Kirchhof soll zu einem neuen Begegnungszentrum für Marburger werden.

“2016 hatten wir in der Lutherischen Pfarrkirche eine Fotoausstellung zu Flüchtlingsroute über den Balkan mit viel Begleitprogramm. Das hat so gut gepasst, dass daraus die Idee entstanden ist, den Kerner zu einem inter­nationalen Begegnungs­zentrum zu machen”, berichtet der Konfliktforscher Johannes Maaser, der mit Pfarrer Ulrich Biskamp von der Lutherkirche zu den Initiatoren des Projekts gehört.

Ziel ist es, im Kerner einen Ort zu schaffen, an dem sich alteingesessene und neu angekommene Marburger treffen, auf Augenhöhe begegnen – und Vor­ur­teile abgebaut werden. “Es ist ganz wichtig, dass wir in einer Zeit, in der so vieles in die falsche Richtung läuft, in der von Rechtspopulisten Ängste geschürt werden, dem etwas entgegensetzen”, sagt Pfarrer Ulrich Biskamp.

Biskamp, Maaser und eine Handvoll ehrenamtlich engagierter Marburger gehören zum “Kern-Kerner-Team”, dass sich regelmäßig trifft und an dem Konzept für das Begegnungszentrum feilt. “Es soll ein sozialer und inter­kultureller Treffpunkt und Veranstaltungsort werden, in dem sich unter­schied­lichste Gruppen selber organisieren, beispielsweise Initiativen von Geflüchteten”, ist Lydia Koblofsky vom Marburger Weltladen wichtig, die ebenfalls im “Kern-Kerner-Team” ist. “Und wir wollen nicht nur in das Begegnungszentrum einladen, wir wollen einen Ort schaffen, in dem sich Gruppen oder Initiativen selbständig organisieren können.”

Flüchtlingen sollen Hilfestellungen gegeben werden, damit sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und die Integration in Marburg gelingt. “Eigentlich ist das, was wir hier betreiben, immer Gegenstand meiner wissenschaftlichen Forschung gewesen”, sagt Sozialpsychologe Prof. Ulrich Wagner, der auch bei dem Kerner-Projekt mit im Boot ist.

Dass gerade der Kerner zu einem Begegnungszentrum ausgebaut wird, ist für Christoph Irgang eine “sehr angemessene Nutzung,” Immerhin sei der Kerner ein historisch bedeutendes Gebäude für die Stadt und nicht nur über 100 Jahre lang von den Marburger Ratsherren als Rathaus, sondern auch später lange als städtischer Versammlungsort genutzt worden – und somit einstmals ein städtisches Zentrum, berichtet der Architekt, der in der Nachbarschaft vom Lutherischen Kirchhof wohnt und beim Kerner-Projekt mitmacht.

Einige Ideen der Kerner-Aktiven sind bereits umgesetzt: Unter dem Motto “Marburger Gespräche zu Migration und gesellschaftlicher Gestaltung” finden hier seit 2016 regelmäßig Vorträge und Workshops statt. Der Ausländerbeirat hat bereits im Kerner getagt und beim Antirassismustag 2017 haben sich im Kerner mehr als ein Dutzend Initiativen vorgestellt. Außerdem gibt es bereits Erzähl-Cafés, Begegnungsabende, Podiumsdiskussionen oder auch eine Spinnstube im Kerner. Wie groß das Interesse an dem Zentrum im Aufbau ist, zeigt der vollbesetzte Saal bei einem Netzwerktreffen im Mai: Vertreter unterschiedlichster Marburger Initiativen sind genauso gekommen, wie Flüchtlinge, die von dem Projekt gehört haben. Er würde sich gerne mit einem Musikprojekt einbringen, erzählt ein Flüchtling aus Afghanistan voller Begeisterung. “Das ist gut, dass es diese Räume hier gibt.”

Als einer der nächsten Schritte will das “Kern-Kerner-Team” ein möglichst täglich geöffnetes Begegnungscafé im Untergeschoss des Kerners einrichten. Ein bio-regio-fairer Mittagstisch sowie Kaffee und Kuchen am Nachmittag sollen Alt- und Neu-Marburger zum Genießen, Verweilen und zu Gesprächen einladen.

Die Vision für die leerstehenden Wohnungen in den drei Obergeschossen des Gebäudes: Hier sollen Arbeitsplätze für Initiativen und Beratungsstellen geschaffen werden. Workshop-Räume und Büros für Asyl- und Integrations­beratung oder Büros für den Ausländerbeirat und Ombutspersonen, können sich die Aktiven hier vorstellen. Aber das ist noch Zukunftsmusik: Vorher müssen die oberen Stockwerke und insbesondere der Dachstuhl des historischen Gebäudes saniert werden. Zurzeit wird dafür mit dem Gesamt­verband der evangelischen Kirchengemeinden Marburgs, dem der Kerner gehört,besprochen, wie die geschätzten sechsstelligen Kosten für die Sanierung aufgebracht werden können.

Anfang Juni ist die Website des Begegnungszentrums online gegangen. Beim Stadtfest “3 Tage Marburg” will sich das interkulturelle Begegnungszentrum dann am Samstag, 7. Juli, mit einem Fest auf dem Lutherischen Kirchhof vorstellen. Ein Förderverein für das Begegnungszentrum soll demnächst gegründet werden, noch stehe das Projekt ja am Anfang, berichtet Ulrich Biskamp und resümiert: “Aber bei der Arbeit an dem Projekt sind schon so viele Freundschaften entstanden, die ich nicht mehr missen möchte. Das Netzwerk wächst immer enger zusammen.”

Begegnungsfest
Das interkulturelle Begegnungszentrum Kerner veranstaltet bei “3 Tage Marburg” auf dem Lutherischen Kirchhof am Samstag, 7. Juli ein buntes Begegnungsfest. Neben dem gemütlichen Zusammenkommen bei bio-regionalen Speisen und Getränken, sind alle neuen und alten Marburger, Gruppen und Initiativen eingeladen, ihre Arbeit zu präsentieren und sich zu Austausch und Dialog zu treffen. Es besteht die Möglichkeit Info-Tische aufzubauen, um die eigenen Projekte vorzustellen. Auch (landestypische) Speisen zum Probieren können mitgebracht werden. Außerdem wird es eine offene Bühne geben, wo traditionelle und moderne Tänze, Musik, Gedichte oder Kurzvorträge dargeboten werden können.
Wer Lust hat, mitzumachen, wendet sich an Michael Bolze: michael.bolze[at]online.de
Infos über das Begegnungszentrum:
pfarrkirche.ekmr.de/kerner/interkulturelles-begegnungszentrum/

Geschichte des Kerners
Das im Herzen der Stadt gelegene Gebäude wurde im 13./14. Jahrhundert ursprünglich als Kapelle und Beinhaus in Stein errichtet. Vor dem Bau des heutigen Rathauses am Marktplatz war der Kerner über 100 Jahre Sitz der Ratsherren, Ort für die Armenspeisung und blieb Versammlungsort und in städtischer Nutzung als Zeughaus bis er im 17. Jahrhundert von der Lutherischen Kirchengemeinde vollständig übernommen wurde. Im 20. Jahrhundert wurden die drei Stockwerke über dem Gewölbekeller als Wohnungen vermietet.
Seit einigen Jahren wird der Kerner nur noch teilweise genutzt. Die oberen Stockwerke und insbesondere das Dach müssen saniert werden.
2016 hat das “Netzwerk Kerner” mit Vertretern der Kirchengemeinde, der Flüchtlingshilfe, der Philipps-Universität, der Stadtverwaltung und des Weltladens die Idee entwickelt, das Gebäude als Begegnungshaus für neu angekommene und alt eingesessene Marburger zu nutzen. Der Gesamtverband der evangelischen Kirchengemeinden Marburgs hat als Eigentümer des Gebäudes der Idee zugestimmt.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Georg Kronenberg