Jubiläum des Marburger „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“

Hinter den Patientinnen und Patienten liegt oft eine Odyssee. Jahrelang sind sie von Spezialist zu Spezialist gezogen und wissen immer noch nicht, was sie krankmacht. Vor zehn Jahren wurde das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ am Universitätsklinikum Marburg gegründet. Seitdem erhält das Team um Medizinprofessor Jürgen Schäfer jedes Jahr knapp 1000 Fälle. Jetzt wurde dies mit einer großen Feier begangen.
Das Marburger Zentrum dürfte die bekannteste Einrichtung ihrer Art in Deutschland sein, weil Initiator Jürgen Schäfer als „deutscher Dr. House“ bundesweit berühmt wurde. In seinen Vorlesungen nutzte er die US-Fernsehserie um den begnadeten, aber schwierigen Arzt, um immer wieder verzwickte Krankheiten zu diagnostizieren. Bis heute bietet er die Seminarreihe auf dem Campus Fulda an. In Marburg betreut er ein studentisches Seminar über ungewöhnliche Fälle. „Medizin ist manchmal wie ein Krimi“, sagt der Kardiologe.

Erst vor kurzem entdeckte das Team aus Ärzten und Labormedizinern bei einem Kleinkind eine neuartige Mutation des LDL-Rezeptors, der für die Aufnahme von Cholesterin in der Zelle zuständig ist. Der kleine Junge hatte Hautveränderungen, die der Kinderarzt zunächst für Warzen hielt. Der Großmutter des Knaben ließ das allerdings keine Ruhe. Sie recherchierte im Internet und fragte, ob es sich nicht auch um eine Hypercholesterinämie handeln könnte. Und tatsächlich stellte sich heraus, dass der Cholesterinspiegel des Kleinkindes massiv erhöht war. Dass dies auf eine bis dahin unbekannte Mutation des LDL-Rezeptors zurückging, fand dann das Team um Prof. Schäfer heraus. Der Kleine wird nun mit Cholesterin-Senkern behandelt. Ohne Therapie wäre er keine zehn Jahre alt geworden, sagt Jürgen Schäfer: „Das ist eine tickende Zeitbombe.“

Festredner Eckhart von Hirschhausen sprach über „Seltene Erkrankungen und Klimawandel“. So fand das Marburger Team kürzlich in einem Präparat aus der Unterhaut eines jungen Mannes einen Hundewurm, der entzündliche Veränderungen verursachte und herausoperiert werden musste. Normalerweise kommt der Wurm nur in Südeuropa vor. Der Mann hatte sich aber wohl in Deutschland über Stechmücken angesteckt, was erst durch steigende Temperaturen möglich ist. „Derzeit noch seltene Erkrankungen könnten in Zukunft zu einem großen Problem werden“, warnt Schäfer.

Das Marburger Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen kann bis zu zwei Drittel seiner Fälle lösen: „Bei einem guten Drittel finden wir nichts Klärendes, obwohl wir uns sehr viel Mühe geben“, sagt Schäfer. Neben seinem fünfköpfigen Team hilft dabei eine Art Think-tank mit wechselnden Fachärzten – etwa aus der Nephrologie, der Pneumologie, der Neurologie, der Endokrinologie und der Psychosomatik. Sie treffen sich jeden Dienstagnachmittag, um besonders komplizierte Fälle zu besprechen. „Unklares Fieber macht uns Bauchschmerzen“, formuliert Schäfer. Etwa der Fall des jungen Mannes, der mit immer wieder kehrenden Fieberattacken und Schmerzen am ganzen Körper zu kämpfen hatte, obgleich kein Entzündungsherd zu finden war. Dabei stellte sich heraus, dass der Patient unter einem seltenen Gendefekt leidet. Jetzt wird er mit Medikamenten behandelt, die diese Immunantwort unterdrücken.

Um die medizinischen Rätsel zu lösen, sind oft aufwändige Laboruntersuchungen nötig. Zudem nimmt sich das Team Zeit. Zum Teil kümmern sich die Mediziner drei bis vier Tage um die Patienten, deren Unterlagen zunächst von den Hausärzten geschickt werden. Ausgedruckt sind dies oft Waschkörbe voller Arztberichte. Kostendeckend arbeiten kann das Zentrum damit nicht. „Die Finanzierung ist ein wunder Punkt“, sagt Schäfer. Deswegen ist er doppelt froh, dass es neuerdings einen Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen in Hessen gibt. Der Verein möchte vor allem Forschung und Lehre weiterentwickeln und zum Beispiel Forschungsprojekte rund um seltene Erkrankungen in Hessen unterstützen.

Gesa Coordes

Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen

Der Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen (FUSE) hat seinen Sitz in Frankfurt und will die Situation von Menschen mit ungeklärten oder seltenen Erkrankungen verbessern. Ziele des Vereins sind insbesondere die Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie die Aus-, Fort- und Weiterbildung auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen. Eine Weitere Aufgabe ist die Öffentlichkeitsarbeit, weil Menschen mit seltenen Erkrankungen in unserem Gesundheitssystem nicht adäquat abgebildet und schon gar nicht finanziert würden, so der Verein.
Weitere Infos: fuse-hessen.de

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes