Starkes Zeichen: Rekordbeteiligung bei der Demonstration gegen Rechtsextremismus am heutigen Samstag in Marburg.

Es ist kurz nach 15 Uhr, die Sonne strahlt, die Biegenstraße und der Platz vor dem Erwin-Piscator-Haus sind ein einziges Menschenmeer. Vom Kunstmuseum bis weit nach dem Erwin-Piscator-Haus stehen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – so viele, wie wohl noch nie bei einer Demonstration in den Straßen der Universitätsstadt.

16.000 Menschen sind nach Angaben der Polizei zu der von der Stadt organisierten Demonstration “Marburg gegen Rechts” gekommen. Rund 120 Organisationen, Vereine, Initiativen, Unternehmen und Kommunen aus dem ganzen Landkreis haben in den vergangenen Tagen zur Teilnahme an der Großdemonstration aufgerufen.

„Wir stehen heute zusammen gegen Hass und Hetze, gegen Lügen und Verleumdungen“, eröffnet Oberbürgermeister Thomas Spies die Kundgebung, nachdem das Duo Arkaden die Teilnehmenden musikalisch eingestimmt hatte. 

Großdemo in Marburg: Hier kommen die Bilder

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„Wir stehen zusammen gegen diejenigen, die aus ihrem Hass ein System staatlicher Bosheit machen wollen“, sagt Spies unter großem Beifall. ,„So hat es damals auch angefangen“, zitiert der OB die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer: mit Wahlergebnissen die binnen fünf Jahren von knapp drei auf 43 Prozent für die NSDAP 1933 springen, mit offener Menschenfeindlichkeit, mit Verächtlichmachung von allen, die dem rassistischen Menschenbild der Rechtsextremen nicht entsprach.

Dagegen stellte der Oberbürgermeister die Losung „Nie wieder ist jetzt!“, mehrmals und wieder unter viel Applaus. „Nie wieder heißt: Wir stehen zusammen, vor allem gemeinsam an der Seite aller, die am Wannsee gemeint waren. Alle gehören dazu, hier und heute und jeden Tag“. Die Gründung eines neuen „Marburger Bündnisses gegen Rechtsextremismus, für Demokratie und Menschenrechte“ kündigt Spies an, zu dem er in den kommenden Wochen alle einladen werde, die zur Demonstration aufgerufen haben.

Für den Ausländerbeirat in der Stadt Marburg tritt die Vorsitzende Sylvie Cloutier ans Mikrofon. „Wir sind hier und wir bleiben hier“, rief Cloutier und machte deutlich, was Vielfalt für alle Seiten bedeute – und wie Marburg ohne Menschen mit Migrationshintergrund aussehen würde: „Ihr braucht uns doch. Wir sind eure Bademeister*innen, eure Busfahrer*innen, eure Erzieher*innen und eure Unternehmer*innen.“ 

Dass auch die Marburger Kinder und Jugendlichen für Vielfalt, Toleranz, Offenheit und Respekt sowie vor allem für Bildung und Beteiligung sind, demonstrierten Lasse Wenzel und Marie Kaiser vom Marburger Kinder- und Jugendparlament bei der Kundgebung eindrucksvoll. Sie wollen „Verantwortung für unsere Zukunft übernehmen, denn Demokratie kennt keine Altersgrenze“, so Wenzel und Kaiser. Sie forderten mehr politische Bildung in und außerhalb der Schulen: „Wenn Kinder früh anfangen mitzureden, werden sie Politik besser verstehen und nicht auf populistische Parolen hereinfallen“, unterstreicht Wenzel. Denn wer über die Gefahren Bescheid wisse, werde sich klar gegen einen Rechtsruck in der Gesellschaft stellen. 

Michael Heiny von der Geschichtswerkstatt erinnert daran, dass am 27. Januar 1945 Auschwitz befreit wurde. Auschwitz wurde das Symbol für die Verfolgung, Deportation und Ermordung von Menschen – „all jene, die die völkische NS-Ideologie zu Volksfeinden erklärt hatte und gnadenlos verfolgte“, so Heiny. Er ordnet die Rolle des braunen Marburgs und der völkisch-nationalistischen Burschenschaften ein. Diese würden auch heute „rechte Vordenker wie Höcke“ zu Veranstaltungen einladen, welche geistige Brandstifter seien mit ihren Plänen zur „Remigration“. Heiny: „Lernen wir aus unserer Geschichte, setzen wir uns solidarisch ein für Gleichheit und Menschenwürde. Stellen wir uns in der Wahlkabine, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft gegen diese Brandstifter und Biedermänner.“

In Namen der Philipps-Universität stellt Präsident Prof. Thomas Nauss klar: „Vielfalt und Freiheit sind wichtig, damit die Wissenschaft ihren Dienst für die Gesellschaft leisten kann. Die Vielfalt der Menschen, ihre Biografien, ihre Kulturen und Perspektiven bieten dieses Potential.“ Außerdem betont der Uni-Präsident das unabdingbare Zusammenspiel von „Demokratie, Freiheit und Wissenschaft – sie bedingen einander und brauchen einander“, so Prof. Nauss. „Lassen Sie uns zeigen, dass wir zusammenstehen.“

„Wir hatten schon mal einen Diktator in diesem Land. Der auch vorher detailliert aufgeschrieben hat, was für furchtbare Dinge er vorhat. Das hat man nicht sehen wollen“, mahnt Stadtverordnetenvorsteherin Elke Neuwohner gegen Ende der Kundgebung: „Diesen Fehler des Verharmlosens, des Nicht-sehen-Wollens, dürfen wir nie wieder machen.“ Faschisten müssten nur eine Wahl gewinnen. „Wenn sie einmal an der Macht sind, bekommt man sein Land erst dann wieder, wenn es in Trümmern liegt“, warnte Neuwohner. Die Gesellschaft und auch die Politik seien gefordert, sich zu wehren und den Krisen erfolgreich zu begegnen. Wer überlege, auszuwandern, solle das nicht tun, bat sie: „Das ist unser Land und das sind unsere Straßen, gemeinsam sorgen wir dafür, dass unser Land und unsere Stadt frei, bunt und solidarisch bleiben.“

Lautstark, aus tausend Kehlen und voller Inbrunst singen die Demonstrierenden „Bella ciao“, das italienische Partisanenlied aus dem Zweiten Weltkrieg gegen den Faschismus, angeleitet von der stimmgewaltigen Sängerin Letso Rose Steinhoff auf der Bühne. Beim gemeinsamen „We shall overcome“ samt frenetischem Beifall für die Sängerin zum Abschluss der Kundgebung haben manche in der Menschenmenge Tränen in den Augen.

pe/kro


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Bilder mit freundlicher Genehmigung von Georg Kronenberg und Nadine Schrey