Die Stadt Marburg erhöht Steuern und will 200 Stellen abbauen.
Noch lebt die Stadt Marburg von ihren Ersparnissen aus der Pandemie-Zeit. Damals bescherte Biontech mit seinem Corona-Impfstoff der Universitätsstadt so gigantische Steuereinnahmen, dass überregionale Nachrichtenmagazine vom „Wunder von Marburg“ berichteten. Das ist jetzt vorbei. Wenn die Stadt nicht gegensteuert, droht ihr ab 2027 ein strukturelles Defizit von 55 Millionen Euro. Im Interview mit dem Marburger Express spricht Oberbürgermeister Thomas Spies über Gewerbesteuern, Stellenabbau, Projekte wie das Vinzidorf und steigende Gebühren.
Marburger Express (ME): Marburg hat seinen Unternehmen, vor allem der Pharma-Branche, mit niedrigen Gewerbesteuern und guten Rahmenbedingungen quasi den roten Teppich ausgerollt. Bei Biontech, CSL Behring und Nexelis werden jetzt trotzdem 1000 Leute entlassen. Man könnte sagen, es hat alles nichts genützt. Bedauern Sie, den Gewerbesteuerhebesatz gesenkt zu haben?
Thomas Spies (TS): Nein. Wir haben damals den Gewerbesteuerhebesatz gesenkt, weil wir astronomische Mengen an Geld hatten. Gleichzeitig knappsten viele kleine und mittlere Unternehmen an den Corona-Folgen. Daran hängen in Marburg nicht nur sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, sondern auch geringfügige Beschäftigungen, mit denen viele Studierende – etwa im Handel und der Gastronomie – ihr Studium finanzieren. Ich kenne kleine Betriebe, die mithilfe der Gewerbesteuersenkung eine weitere Person eingestellt haben. Zudem mussten wir auf die hohen Einnahmen hohe Umlagen an Land und Landkreis zahlen, die Senkung ging nicht allein auf Kosten von Marburg. Nun hat sich die Lage geändert, also muss man die Gewerbesteuer wieder anpassen. Wir haben sie bereits um fünf Prozent erhöht. Nach dem Vorschlag des Magistrats soll der Hebesatz jetzt noch einmal um knapp fünf Prozent auf 400 Prozentpunkte steigen. Ich bin gespannt, was die Stadtverordneten dazu sagen.
ME: Aber Marburg liegt damit ja immer noch deutlich unter den Gewerbesteuern, die in Hessen durchschnittlich gezahlt werden – die liegen bei 415 Prozentpunkten. Und wenn man es mit Mainz vergleicht, dem Hauptsitz von Biontech, sind es sogar 440 Prozentpunkte. Warum wird angesichts des Haushaltslochs nicht mehr erhöht?
TS: Mainz hatte auf 310 Punkte gesenkt und liegt jetzt wieder bei 440. Wir wollen die Gewerbesteuer hier in der aktuellen Situation nicht noch weiter erhöhen. Wir wollen die nach wie vor gebeutelten Unternehmen und damit auch den Arbeitsmarkt unserer Stadt stabilisieren. Am Pharma-Standort werden Stellen abgebaut. Vor dem Hintergrund haben wir ein besonderes Interesse, dass wir als Wirtschaftsstandort attraktiv sind, dass sich Unternehmen ansiedeln, damit die Menschen dort wieder einen Job finden. Aber die Konzernzentralen der Pharmaunternehmen sind ja nicht vor Ort. Da konkurrieren wir mit den USA, Australien oder der Schweiz.

ME: Die Stadt Marburg hat jetzt 1.444 Vollzeitstellen. 400 davon wurden in den vergangenen zehn Jahren geschaffen. Gießen hat deutlich weniger Beschäftigte. Woran liegt das?
TS: Man kann die Städte nicht eins zu eins vergleichen. Gießen hat zum Beispiel den Schulbereich aus der Stadtverwaltung ausgegliedert, Hanau die Kinderbetreuung und den Gebäudebetrieb. Dadurch haben diese Städte auch kleinere Verwaltungen. Wir haben bei der Gebäudewirtschaft vor Jahren entschieden, eigene Reinigungskräfte einzustellen, statt Fremdfirmen zu nutzen. Das ist ein bisschen teurer, aber wir wissen, dass jemand, der fest für eine Schule zuständig ist, sich besser um die Räume kümmern kann, als jemand, der sie in strikten Zeiteinheiten abfertigen muss. Wir haben auch die ganze Grünpflege mit mehr als 90 Stellen aus dem Dienstleistungsbetrieb DBM in die Kernverwaltung geholt. Das spart Bürokratie und damit Kosten, bedeutet aber mehr Personal auf dem Papier.
Dennoch gibt es bei uns ein bisschen mehr Personal als in anderen Kommunen. Das liegt am Service und den Leistungen, die Marburg bietet. Ein Wohngeldbescheid dauert bei uns nicht zwei Jahre wie in mancher süddeutschen Stadt, sondern weniger als drei Monate. Wir haben eine vernünftig ausgestattete Ausländerbehörde, weil wir durch die Universität viele internationale Studierende und Forschende haben, die nur wenige Monate bleiben, aber in der Zeit auch gut betreut werden müssen. Reduzieren wir das Personal im Stadtbüro, gibt es Schlangen vor der Tür. Wir haben Personal für Digitalisierung eingestellt, deshalb sind wir bei der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes weit vorn.
ME: 30 Prozent der Personalkosten stecken in den Beschäftigten für Bildung und Betreuung. Marburg hat auch bei den Kitas einen deutlich besseren Personalschlüssel als andere Kommunen. Wird sich das ändern?
TS: Das muss man sehen. Zum einen ist es ohnehin schwierig, so viel Personal für die Kitas zu bekommen. Zum anderen wird sich die Organisation ändern. Wir gehen davon aus, dass ein Teil der Eltern einen Ganztagsplatz angemeldet hat, obwohl sie ihn vielleicht nur einmal in der Woche brauchen. Das kostete ja bislang nichts. Diese Eltern werden möglicherweise eine Betreuung nach ihrem tatsächlichen Bedarf buchen, wenn es Gebühren kostet. Dadurch könnten Gruppen in einigen Kitas am Nachmittag früher schließen. Dieser Spareffekt ist höher als das, was wir durch Gebühren einnehmen. Wir wollen die Kita- und Krippengebühren in mehreren Schritten erhöhen und orientieren wir uns am Mittelwert vergleichbarer Städte. Ob man dann auch noch an den Stellenschlüssel geht, muss man sehen.
ME: In normalen Unternehmen würden jetzt Stellen abgebaut – durch betriebsbedingte Kündigungen, Abfindungen und vorzeitigen Ruhestand. Ist irgendetwas davon in einer Stadtverwaltung möglich?
TS: Nein, wir kündigen niemandem. Das geht im öffentlichen Dienst nicht. Es gibt auch keinen Topf für Abfindungen, die man hier verhandeln könnte.
ME: Also setzen Sie darauf, dass die Boomer in Rente gehen?
TS: Bis 2030 gehen tatsächlich rund 150 Mitarbeiter*innen in den Ruhestand. Das heißt nicht, dass genau ihre Stellen nicht nachbesetzt werden. Wir schauen bei jeder einzelnen Stelle, ob oder in welchem Umfang es die erbrachte Leistung noch geben soll. Nach dem Grundsatz: Erst wird die Aufgabe geprüft, dann über die Stelle entschieden. So haben wir im laufenden Jahr schon 2,5 Prozent der Stellen eingespart. Das ist für den öffentlichen Dienst extrem viel. Außerdem schlagen wir vor, dass freie Stellen frühestens nach sechs Monaten wieder besetzt werden. Insgesamt gehen wir davon aus, dass wir bis 2030 rund 200 Arbeitsplätze weniger haben werden. Das entspricht zehn bis 20 Millionen Euro weniger für Personal und die zugehörige Infrastruktur wie Räume, Ausstattung und IT – je nachdem, um welche Stellen es sich handelt.
ME: Gibt es Investitionen, die bereits verschoben worden sind oder ganz gestrichen wurden?
TS: Wir verzichten auf den geplanten Neubau des Stadtbüros, der zwischen 50 und 80 Millionen Euro gekostet hätte. Stadtbüro, Stadtpolizei und Standesamt sind im 3U-Gebäude nebenan und in einer Immobilie in der Schubertstraße, die wir angemietet haben. In Zukunft werden wir mehr Fachdienste im Neuen Forum unterbringen. Wir wollen insgesamt weniger Verwaltungsstandorte.
ME: Was ist mit Projekten wie dem Vinzidorf?
TS: Wir klären im Moment die Frage der Fördermittel. Wenn das Vinzidorf so gefördert wird wie beantragt, ist es für die Stadt nicht teurer, sondern eine andere Form des sozialen Wohnungsbaus. Obdachlose Menschen müssen wir sowieso unterbringen. Viele dieser Menschen halten es in einer Wohnung nicht aus. Das Vinzidorf ist für sie eine erträgliche Form. Wenn sie sich an ein Leben in vier Wänden gewöhnt haben, hoffen wir, dass sie auch in eine Wohnung ziehen, und das Vinzidorf den nächsten Obdach bietet.
ME: Und was ist mit der Zukunft des Schlosses?
TS: Das Schloss gehört uns nicht. Es ist die Wiege des Landes Hessens und einer der wichtigsten mittelalterlichen Profanbauten Deutschlands. Wenn Land und Bund substanziell in die Sanierung einsteigen, werden wir uns mit dem Land über die Frage einigen, wie viel Stadtmuseum da drin unser Anteil wäre.
ME: Der geplante Neubau Theater?
TS: Das Gebäude am Schwanhof ist zu klein für das Hessische Landestheater und die Musikschule. Gerade wurde dort ein Bühnenanbau errichtet und eine neue Probebühne angemietet. Aber das Haus muss grundsaniert werden. Insofern müssen wir selbstverständlich weiter die Frage eines Theaterneubaus im Auge haben. Wir haben nur im Moment eine ganze Reihe anderer Baustellen, zum Beispiel die Erweiterung der Waggonhalle.
ME: Wie sieht es bei Eintrittspreisen für Schwimmbäder und Gebühren aus?
TS: Neulich hat mir jemand von einem Badegast erzählt, der 70 Kilometer nach Marburg ins Schwimmbad fährt, weil das hier so billig ist. Die Preise im Marburger Schwimmbad sind wirklich niedrig. Wir liegen mit der geplanten Preiserhöhung immer noch weit unter vergleichbaren Bädern andernorts. Die Erhöhung bringt 400.000 Euro mehr Einnahmen. Leicht erhöht werden auch die Grundsteuer B, die Hunde- und die Zweitwohnsitzsteuer. In Marburg gibt es trotzdem noch eine ganze Menge Leistungen, die andere Kommunen noch nie hatten. Und wir haben immer noch höhere Gewerbesteuereinnahmen und viel weniger Schulden als andere.
ME: Trotzdem gab es bereits Demonstrationen wegen der drohenden Kürzungen. Träger der offenen Jugendarbeit und Kulturschaffende protestieren. Wie wollen Sie die beruhigen?
TS: Erstens finde ich, dass die Debatte noch sehr ruhig und vernünftig läuft. Und zweitens haben wir von Anfang an darauf geachtet, den Prozess transparent zu kommunizieren und genau zu sagen, wo das Problem liegt.
ME: Der Kulturladen KFZ fordert sogar einen Inflationsausgleich, also eine Erhöhung der Bezüge. Ist das irgendwie realistisch?
TS: Ich finde die Forderung völlig legitim. Die Kultur ist wirklich prekär gestrickt, auch wenn wir die freie Kultur in den guten Jahren enorm aufgestockt haben. Auch jetzt haben wir zuerst die eigenen Kulturangebote gestrichen, um die freien Träger zu schützen. Aber ein Inflationsausgleich ist im Moment sehr schwierig.
ME: Sie haben in Ihrer Haushaltsrede gesagt „Das sind keine schönen Jahre.“
TS: Ja, das ist nicht schön. Aber es hilft ja nichts. Ich könnte mich auch zurücklehnen und nicht konsolidieren. Aber dann erwartet Marburg ein Riesenloch mit extremen Sparauflagen von oben. Nach meiner Überzeugung müssen wir jetzt systematisch vorgehen und uns Zeit verschaffen, um unsere Finanzen geordnet zu stabilisieren. Das macht keine Freude. Die Aufgabe ist aber, dass wir es so hinkriegen, dass es für alle erträglich bleibt.
Interview: Gesa Coordes

