Bei einer Lehrgrabung der Uni Marburg an der Kugelkirche ist kürzlich eine Klapp-Sonnenuhr aufgetaucht. Entdeckerin Julia Weber und Grabungsleiter Tobias Heuwinkel berichten von dem ungewöhnlichen Fund.

Das seltene Fundstück ist gerade mal so groß wie eine Streichholzschachtel. Entdeckt hat es die Marburger Archäologiestudentin Julia Weber in der Oberstadt. Als sie Erde aus einer etwa eineinhalb Meter tiefen Grube an der Ausgrabungsstelle zwischen Kugelkirche und Kugelherrenhaus heraushob, fiel der kleine, helle Gegenstand plötzlich auf den Boden: „Ich habe den dann meinem Abschnittsleiter gegeben, und der hat gesagt, dass wir etwas Besonderes gefunden haben. Er wusste nicht, was es ist, aber er wusste, es ist in jedem Fall Knochen, und es ist nicht gewöhnlich.“ Und er hatte recht: Ein paar Tage später stand fest, dass die Lehrgrabung des Vorgeschichtlichen Seminars eine seltene Sonnenuhr aus dem Spätmittelalter gefunden hat.

„Es ist faszinierend zu wissen, was vor der eigenen Zeit in der eigenen Heimat war“, berichtet Weber. Sie kommt aus Butzbach und hat sich bewusst für die Lehrgrabung in Marburg und gegen eine in Spanien entschieden, auch wenn das Wetter hier weniger attraktiv sei. Weber ist eine von 20 Studierenden, die zwei Wochen lang unter Anleitung ihrer Dozenten in der Marburger Oberstadt ausprobieren sollten, wie archäologische Quellen zu beschaffen sind, erläutert der stellvertretende Grabungsleiter Tobias Heuwinkel: „Diese Grabung hat zwar einen hohen wissenschaftlichen Stellenwert, aber es geht in erster Linie darum, den Kommilitonen zu ermöglichen, einen Einblick in die praktische Methode zu geben, also nicht nur Bücher zu lesen.“ Marburg biete damit als einzige hessische Universität eine auf die Anforderungen der Landesbehörden und Grabungsfirmen ausgerichtete Ausbildung für die Epochen Frühgeschichte, Mittelalter und Neuzeit.

Hat die spätmittelalterliche Sonnenuhr entdeckt: Archäologie-Studentin Julia Weber (Foto: Leonie Theiding)

Die Sonnenuhr aus dem Spätmittelalter sei „ein sensationelles Ergebnis hinsichtlich der Seltenheit“, sagt der stellvertretende Grabungsleiter. In Mittel- und Osteuropa gäbe es bisher erst 35 Uhren dieses Typs. Doch nicht nur das, sondern auch der Zeitgeist, auf den die Uhr hindeute, sei besonders: „Das ist genau die Übergangszeit zwischen Mittelalter, wo man im religiösen Milieu verhaftet geblieben ist und seine Wertvorstellungen drauf stützt – und auf einmal kommt die Wissenschaft.“ Heuwinkel bezeichnet die Sonnenuhr auch als „frühes Zeugnis von Wissenschaft in Marburg“.
Der Fund zeige zudem, dass hier Vorarbeit zur Reformation geleistet wurde, so der 29-Jährige: „Die Reformation auf geistiger Ebene als auch diese Sonnenuhr sind Ausdruck eines Wissenstandes und einer technischen Komponente.“ Denn eine Sonnenuhr setze mathematische und astronomische Kenntnisse voraus. „Das spiegelt diesen Zeitgeist, dass man aus alten Strukturen auf Basis des Humanismus aufbricht, dass man reformatorisch auf geistiger Ebene wirkt und natürlich eben auch parallel Wissenschaft betreibt, die den Humanismus fördert. Und das findet Ausdruck in solchen astronomischen Werken“, erklärt Heuwinkel.

Passt in die Hosentasche: Die Sonnenuhr gehörte wahrscheinlich einem Mönch aus dem Orden der Brüder vom Gemeinsamen Leben. Das Stück wird derzeit restauriert. (Foto: Felix Teichner)

Dass das Individuum immer mehr in den Vordergrund rücke“ würde die Sonnenuhr im Taschenformat ebenfalls verdeutlichen, sagt Heuwinkel. Ohne die Sonnenuhr konnten die Menschen ihre Termine zum Beispiel auf Reisen lediglich nach dem Stand der Sonne vereinbaren. Doch ein Mönch, der so eine Sonnenuhr besessen habe, hätte die Möglichkeit gehabt, mit dieser seinen Tagesablauf zu gliedern. „Er konnte Termine vereinbaren, er konnte sich präzise daran halten“, erklärt der stellvertretende Grabungsleiter. Auf die halbe Stunde genau hätten Mönche durch die Sonnenuhr sich verabreden können.
„Das ist schon ein besonders Statussymbol gewesen“, sagt Heuwinkel und vergleicht die knöcherne Sonnenuhr mit einer Luxusmarke wie Rolex. Nach Einschätzungen des Seminars stammt die Sonnenuhr aus dem Besitz eines Angehörigen des Reformordens der Brüder vom Gemeinsamen Leben (Canonici Regulares Sancti Augustini Fratrum a Vita Communi). Bis ins Jahr 1527 unterhielten diese den Klosterbau in der Marburger Oberstadt.

Stellvertretender Grabungsleiter Tobias Heuwinkel mit einer Studentin. (Foto: Leonie Theiding)

Das Ziel der Lehrgrabung war, einen Einblick in das Alltagsleben der Mönche im Kloster zu bekommen. Heuwinkel nennt als Beispiele ein Rasiermesser als Fundstück, das Aufschluss über die Körperpflege geben könne, oder Keramik: „Dadurch wissen wir, um es ganz banal zu sagen, wie ihre Küche ausgesehen hat.“ Denn schließlich sei der Alltag der Mönche nicht dokumentiert. „Wir würden auch keine Abhandlung darüber schreiben, wie wir uns morgens die Zähne putzen und was wir dafür für Material benutzen, in der Hoffnung, dass das irgendjemanden mal interessiert“, sagt Heuwinkel. In Unterlagen des Marburger Staatsarchivs stehe nur, wann das Kloster erbaut worden sei und wer bestimmte Ämter bekleidet habe. Den Alltag der Menschen vor unserer Zeit zu rekonstruieren, sei für Archäologinnen und Archäologen nur möglich, so Heuwinkel, wenn sie während ihrer Ausgrabungen „den Abfall dieser Zeit“ untersuchten.

Leonie Theiding

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Felix Teichner und Leonie Theiding