Ungültige, Mythen und verspätete Briefwähler

Das Ergebnis der Marburger Oberbürgermeisterwahl war äußerst knapp: Mit nur 95 Stimmen Vorsprung behauptete sich Amtsinhaber Thomas Spies (SPD) in einem Wahlkrimi vor seiner Herausforderin Nadine Bernshausen (Grüne). Deswegen haben die Grünen im Wahlausschuss der Stadt beantragt, die Wahl komplett neu auszuzählen, berichtet der grüne Fraktionsvorsitzende Dietmar Göttling auf Anfrage: „Wenn ein Ergebnis so eng ist, ist es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass man noch einmal nachzählt, damit kein Makel im Raum steht“, sagte er. 

Der aus sechs Vertretern der größten Marburger Fraktionen zusammengesetzte Ausschuss hat aber zunächst nur beschlossen, die ungültigen Stimmen zu überprüfen, die den Grünen sehr hoch erschien. Es gab 318 ungültige Stimmzettel und damit 40 mehr als beim ersten Wahlgang. Prozentual ist der Anteil aber wegen der gesunkenen Wahlbeteiligung noch höher. Er stieg von 0,87 auf 1,29 Prozent. Diese Steigerung erscheint den Grünen so hoch, dass sie diese ebenfalls überprüft haben wollten. Das Ergebnis wird in den nächsten Tagen erwartet. Für die Grünen ist das aber nur der erste Schritt. In der nächsten Sitzung werde dann entschieden, ob noch einmal insgesamt neu ausgezählt werde, so Göttling. 

Daniela Maier, Oberverwaltungsrätin beim hessischen Städte- und Gemeindebund, wundert sich darüber: „Dass ein Wahlergebnis knapp ist, ist erst einmal kein Grund für eine Neuauszählung“, sagt sie. Aus den vergangenen Jahren sei ihr in Hessen kein vergleichbarer Fall bekannt. Im Gegenteil: Als im November 2020 bei der Bürgermeisterwahl im nordhessischen Ahnatal beide Kandidaten exakt gleich viele Stimmen erhielten, entschied das Los. Weder der dadurch siegreiche Sozialdemokrat noch der dadurch scheidende CDU-Amtsinhaber wollten eine Neuauszählung oder eine Überprüfung der ungültigen Stimmen. So war es auch bei der Bürgermeisterwahl 2014 in Reichelsheim (Wetterau), als Amtsinhaber Bertin Bischofsberger (CDU) mit nur einer Stimme Vorsprung die Stichwahl gegen seinen Kontrahenten von der SPD gewann. Auch diese Wahl wurde nicht erneut geprüft. Sechs Jahre später schafften die Sozialdemokraten dann den Sprung ins Rathaus.

Politikprofessor Norbert Kersting (Uni Münster) hat aber durchaus Verständnis für den Weg der Marburger Grünen: „Neu zählen kann man immer“, sagt der Experte für Kommunalwahlen, der bis 2006 in Marburg lehrte. Das sei durchaus legitim und komme ab und zu vor. Bei den Erfolgsaussichten ist er allerdings sehr skeptisch. Wenn kein systematischer Fehler vorliege, verschiebe sich beim Ergebnis in der Regel nicht mehr viel. Und Anfechtungen von Wahlen seien immer kompliziert. 

Die Grünen werfen der Stadtverwaltung vor allem eine „teils chaotische Wahlorganisation“ vor, so Göttling: „Die Briefe sind viel zu spät versandt worden“, sagt er. Wer gerade nicht in Marburg wohne, habe dadurch möglicherweise nicht wählen können. Auch die Wahlbriefkästen seien nicht oder zu spät gekennzeichnet worden, in den Außenstadtteilen habe es keine gegeben: „Das sind alles Dinge, die nicht besonders intelligent gehandhabt wurden“, sagt der Grüne. 

Marburgs Wahlleiter Dieter Finger weist die Vorwürfe scharf zurück: „Dem Ansehen und dem Anspruch einer ordnungsgemäß durchgeführten Wahl, die zudem noch unter den besonderen Bedingungen der Corona-Pandemie von rund 800 ehrenamtlichen Wahlhelfer*innen durchgeführt wurde, wird mit leichtfertigen Behauptungen schwerer Schaden an den Grundprinzipien der auf freien und geheimen Wahlen beruhenden Demokratie zugefügt.“ Zudem werde die Arbeit der Wahlhelfer und des gesamten Wahlteams der Stadt „in höchstem Maße diskreditiert“. 

Noch in der Nacht nach der Oberbürgermeisterwahl seien die Vorbereitungen für die Stichwahl getroffen worden. Es wurden neue Stimmzettel gedruckt und zeitgleich zur noch laufenden Auszählung der Kommunalwahl die Anträge auf Briefwahl bearbeitet. Alle Unterlagen seien noch in derselben Woche, die letzten am Freitag, 19. März, per Post verschickt worden. Vorsichtshalber hatte die Stadt in mehreren Pressemeldungen, auf ihrer Homepage und über ihre Social-Media-Kanäle darauf hingewiesen, dass die Wahlbriefe im Zweifel lieber direkt in den aufgeführten Briefkästen der Verwaltung einzuwerfen seien. Vor diesem Hintergrund entbehrten die Vorwürfe jeder Grundlage, so Finger. 

Auf Anfrage ergänzte er, dass in den Tagen nach der Oberbürgermeisterwahl noch insgesamt 177 Wahlbriefe im Rathaus ankamen, die wegen der Verspätung weder geöffnet noch gezählt wurden. Diese Zahl ist aber ebenso hoch wie beim ersten Wahlgang, wo die Wahlbriefe viel früher versandt wurden. Die Wahlbeteiligung lag da aber höher.

Unterstützung bekommt der Wahlleiter von Johannes Becker, dessen eigener Wahlbrief in seinem Ferienhaus in Frankreich gerade noch rechtzeitig kam: „Das Marburger Wahlamt ist ein korrektes Amt par excellence. Ich glaube, dass die keine Fehler zulassen“, sagt der Marburger Konfliktforscher. Die gestiegene Zahl an ungültigen Stimmen lasse sich auch leicht erklären. Die Anti-Lockdown-Liste „Weiterdenken“, dessen Spitzenkandidat im ersten Wahlgang auf 403 Stimmen kam, hatte dazu aufgerufen. Verstehen kann er die Grünen dennoch: „Das ist der Strohhalm, an den sie sich klammern.“ 

Dass die Enttäuschung bei den Grünen bei so einer knappen Niederlage groß ist, kann auch FDP-Spitzenkandidat Michael Selinka gut nachvollziehen. Damit „kein Geschmäckle“ bleibe, sei es auch legitim, noch einmal auf die ungültigen Stimmen zu schauen, sagt der Politiklehrer: „Ich finde es gut, wenn man jeglichen Ruch und jegliche Mythenbildung verhindert.“ Schließlich gebe es derzeit viele Gerüchte rund um die Wahl. Er selbst wisse auch von Menschen, die bei der ersten Wahl wieder nach Hause gegangen seien, weil ihnen die Warteschlangen zu lang waren. 

Nach der Überprüfung durch den Wahlausschuss liege es an Nadine Bernshausen – selbst Juristin -, ob sie die Wahl anfechten wolle, sagt Selinka: „Dann muss man halt schauen, an welcher Stelle es Trump-mäßig wird.“ Er würde allerdings nicht empfehlen, die ganze Wahl noch einmal auszuzählen. Da müsse man den Ehrenamtlichen ein gewisses Vertrauen entgegenbringen: „Wir sind ja nicht zwangsweise eine Bananenrepublik“, so Selinka. 

Kritik kommt von Andrea Suntheim-Pichler, der Spitzenkandidatin der „Bürger für Marburg“: „Dass die Fraktion der Grünen dem Wahlleiter unterstellt, unsauber gearbeitet zu haben, finde ich ziemlich schwierig“, sagt Suntheim-Pichler. Sie empfiehlt den Grünen, „vom Gas runterzugehen und das Wahlergebnis anzuerkennen“. (Gesa Coordes)

Verborgene Stimmen?

95 Stimmen fehlen den Grünen, um die Oberbürgermeisterwahl nachträglich zu drehen. Dass sich diese Voten in den 318 ungültigen Stimmzetteln finden, ist eher unwahrscheinlich: Als ungültig wird ein Stimmzettel gewertet, wenn kein Kreuz gesetzt, ergänzende Anmerkungen gemacht, der Wählerwille – etwa durch Fragezeichen oder Markierungen bei beiden Kandidaten – nicht klar erkennbar ist, der Stimmzettel durchgerissen oder durchgestrichen wurde. Bei den Stimmzetteln, die auf den ersten Blick weder offensichtlich gültig noch offensichtlich ungültig sind, entscheidet der aus je neun Wahlhelfern bestehende Wahlvorstand in den Wahllokalen: „Wenn Fehler passieren, dann eher in den mit Ehrenamtlichen besetzten Wahllokalen“, weiß Politikwissenschaftler Norbert Kersting. Aber ein Drittel der Briefwähler gebe die Stimme direkt im Rathaus ab. 

Die grüne Spitzenkandidatin Nadine Bernshausen hat bei den Briefwählern etwas besser abgeschnitten als Wahlsieger Thomas Spies (SPD). Da hatte sie mit 51,87 Prozent der Stimmen die Nase vorn. Deswegen ärgern sich die Grünen besonders über die Briefwahlstimmen, die nicht gezählt wurden, weil sie verspätet eintrafen. Allerdings würde sich am Wahlausgang aller Wahrscheinlichkeit selbst dann nichts ändern, wenn man die Verspäteten mitzählen würde. Geht man davon aus, dass Bernshausen bei den verspäteten Briefwählern den gleichen Stimmenanteil erreicht wie bei den rechtzeitigen Briefwählern, hätte sie bei 177 Briefwählern nur sechs bis sieben Stimmen mehr. Juristisch ist das nachträgliche Zählen von verspätet eingetrudelten Briefwahlstimmen allerdings ohnehin nicht vorgesehen. (gec)

Verein will 16-Jährige mitwählen lassen

Der Verein „Mehr Demokratie“ will die Marburger Oberbürgermeisterwahl  anfechten. Das kündigte Landesvorstandsmitglied Nelly Langelüddecke an. Die Initiative des überparteilichen Vereins, die sich für Reformen des Wahlrechts einsetzt, hat aber nichts mit dem Vorstoß der Grünen zu tun. Die Vereinigung will den knappen Wahlausgang allerdings zum Anlass nehmen, erneut auf ihr Anliegen hinzuweisen. Durch die geplante Wahlanfechtung wollen sie erreichen, dass auch 16- und 17-Jährige in Hessen wählen dürfen: „Wir glauben, dass sie die Reife und die Kompetenz haben, politische Entscheidungen zu treffen“, sagt die Marburger Politikstudentin. Junge Menschen wollten mehr gehört und repräsentiert werden.

In elf Bundesländern dürfen die Jugendlichen bereits bei Kommunalwahlen mitstimmen. Hessen hat sich bislang noch nicht dazu durchringen können. Auf Landesebene sind SPD, Grüne und Linke für die Absenkung des Wahlalters. Die Grünen regieren gemeinsam mit der CDU in Hessen. Die Absenkung des Wahlalters bei ihrem Koalitionspartner durchzusetzen, schafften sie jedoch nicht. (gec)

Bild mit freundlicher Genehmigung von Patricia Grähling, Stadt Marburg