Stadtrat für Klimastruktur und Lieblingsfeind der Konservativen: Michael Kopatz ist seit zwei Jahren im Amt. Wie er zum gescheiterten Bürgerentscheid steht, welche Ziele er für Marburg hat und warum er jeden duzt, erklärt er im Gespräch mit dem Express.
Wer den Marburger Stadtrat Michael Kopatz (Klimaliste) trifft, kommt um das Du kaum herum. „Moin, ich bin Michael“, sagt der 53-Jährige zur Begrüßung. Damit hat er zumindest anfangs für ziemlich viel Irritation im Rathaus gesorgt. In der Verwaltung duzt er quasi alle – vom Oberbürgermeister bis zur Reinigungskraft. Nur bei der CDU, das räumt er auf Nachfrage schon ein, sieze er einige – die CDU-Chefs Jens Seipp und Dirk Bamberger zum Beispiel.
Dass die vertrauliche Anrede manche Mitarbeiter befremden könnte, war ihm bei seinem Amtsantritt klar. Er entschied sich jedoch bewusst dafür: „Das flacht Hierarchien ab. Die Leute trauen sich dann eher, selbst Vorschläge zu machen und mich zu kritisieren“, meint er.
Vor exakt zwei Jahren ist Michael Kopatz aus der Wissenschaft in die Kommunalpolitik gewechselt. Der promovierte Umweltwissenschaftler arbeitete zuvor mehr als 20 Jahre am renommierten Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie, wo er vor allem über Umweltpolitik forschte. In Marburg habe er sich beworben, weil er gefragt worden sei, sagt Kopatz. Bis dahin hatte er mehrere Bücher über Umweltpolitik geschrieben, war jedes Jahr zu mehr als 60 Vorträgen in Deutschland unterwegs.
Seitdem gehören die begeisterten Zuhörer seiner Vorträge der Vergangenheit an. Seitdem weiß er um die zähen Abstimmungsprozesse, die widerstreitenden Einschätzungen und die Fallstricke der Straßenverkehrsordnung: „Man kann viel forschen“, sagt Kopatz: „Selbst zu tun, was man sagt, ist etwas ganz anderes.“
Aber er freut sich, dass die Grundschulkinder in Elnhausen und Michelbach nun in Holzbauten anstelle von Stahlcontainern lernen. Und dass zumindest einige Straßen für Marburger Radfahrer sicherer geworden sind.
Die Opposition aus CDU, FDP und Bürgern für Marburg hat den Stadtrat für Klimastrukturwandel, Bauen, Stadtplanung und Mobilität zu ihrem Lieblingsfeind auserkoren. Sie werfen ihm (und OB Spies) „ideologischen Irrsinn“ und „verkehrspolitischen Wahnsinn“ vor. Auch meide er die Bürgerbeteiligung „wie der Teufel das Weihwasser“, behauptete etwa Jens Seipp.
Michael Kopatz staunt über die Marburger „Aufregungskultur“, bei der schon kurze Wartezeiten vor einer Ampel die Menschen sauer machten. Freilich gelingt es ihm in Diskussionen auch nicht immer, „die Leute mitzunehmen“, wie ein Beobachter formuliert. Er sei halt kein Politiker, sagen Klimaaktivisten. „Er ist unkonventionell, kreativ und ein absoluter Teamplayer“, lobt dagegen Lars Opgenoorth von der Marburger Klimaliste. Kopatz selbst sieht sich eher als Teil der Verwaltung, wenngleich er politisch gewählt wurde.
In Marburg wohnt der 53-Jährige in einer Wohngemeinschaft im Südviertel. Das gehört zu seiner Überzeugung, nach der Wohnfläche optimal genutzt werden sollte. Jedes zweite Wochenende pendelt er zu seiner Familie in seine Heimatstadt Osnabrück. Sein erster Wohnsitz ist jedoch Marburg, wo ihn seine Frau häufig besucht. Und er würde auch gern bleiben.
Dass der Bürgerentscheid um die Halbierung des Autoverkehrs in Marburg scheiterte, hat ihn nicht überrascht. Immerhin sei er knapp ausgegangen – 20.000 Menschen hätten sich dafür ausgesprochen. Nun wolle er zunächst schrittweise mit den Maßnahmen weitermachen, die unkritisch seien. Freilich habe sich an der öffentlichen Debatte wenig verändert. Verkehrspolitik sei „einfach extrem wahlkampftauglich“, sagt er.
Dabei ist der Stadtrat weder ein Moralapostel noch ein Verfechter der reinen Lehre. Er hat zwar nie ein Auto besessen, hat sich aber – vor allem, als seine beiden Kinder noch jünger waren – mit Carsharing beholfen. „Ein Auto ist schon praktisch“, sagt er. Er ist auch nur viermal in seinem Leben geflogen und fährt in Marburg mit dem E-Bike zu den Terminen: „Aber mit dem ständigen Moralisieren machen sich die Leute gegenseitig fertig. Diese Appelle machen nur schlechte Stimmung, ändern aber nichts“, sagt er.
Den bekannten Fernsehmediziner Eckart von Hirschhausen hat er mit seinem Buch über das Ende der Ökomoral begeistert. Die Grundidee: Menschen ändern sich nicht so leicht durch Einsicht, sondern durch neue äußere Umstände. Deswegen müssten die politischen Rahmenbedingungen so verändert werden, dass es den Menschen leichter falle, das Richtige zu tun. Beim Flugverkehr plädiert Kopatz dafür, ihn schlicht nicht weiter auszubauen. Wenn keine neuen Starts und Landebahnen genehmigt werden, würde das schon viel bringen. Das Gleiche gelte für neue Straßen.
Bereits vor Jahren entwickelt hat er die Idee von der kürzlich eingeführten Auto-Abschaff-Prämie. Wer in Marburg ein Jahr lang auf das eigene Auto verzichtet, bekommt eine Prämie von 1250 Euro, die für Carsharing, Bus und Bahn sowie in Marburger Geschäften und Restaurants eingesetzt werden kann. Bedingung ist, dass der private Pkw in dieser Zeit abgemeldet oder stillgelegt wird. Wenn 100 Menschen mitmachen, koste dies 125.000 Euro, rechnet Kopatz. Soviel wie der Bau eines Parkplatzes in einer Quartiersgarage. „Das ist gut investiertes Geld“, sagt er. Die Menschen brauchten Zeit, um die Vorteile der umweltfreundlichen Mobilität zu erleben.
Um den Verkehr zu beeinflussen, sei der Parkraum eine zentrale Stellschraube. Die Marburger Stellplatzsatzung wurde so geändert, dass nun bei Neu- und Umbauten keine Parkplätze mehr gebaut werden müssen. Kopatz möchte auch alle Parkplätze Marburgs bewirtschaften, das Anwohnerparken verteuern und die Wege zu den Parkplätzen verlängern. Das Geld solle dann in den Nahverkehr fließen, wo die Angebote bereits jetzt verbessert werden. Doch davon allein würden die Busse nicht voller. Solange man mit dem Auto schneller und bequemer vorankomme, würden die Menschen ihre Gewohnheiten nicht ändern, sagt der Stadtrat.
Viel diskutiert er mit den Marburger Unternehmern, um sie von Jobtickets und bewirtschafteten Parkplätzen zu überzeugen. Wenn der Firmenstellplatz zwei Euro am Tag koste, würde manch einer umsteigen. Doch weil das Ärger mit Mitarbeitern und Betriebsrat bringen könne, schlägt er nun eine Mobilitätszulage vor. Dabei werden den Beschäftigten zum Beispiel 40 Euro pro Monat gezahlt, die sie dann fürs Parken, den Bus oder (beim Radeln) fürs eigene Portemonnaie verwenden können.
Dass in Marburg nur etwa elf Prozent der Wege mit dem Rad zurückgelegt werden, möchte er ändern. Schließlich radeln im ebenfalls bergigen Tübingen mehr als doppelt so viele. In der Biegenstraße wurde ein neuer Radweg angelegt. Verbesserungen gab es auch mit neuen Markierungen und besseren Radwegeführungen an der Elisabethkirche und am Wilhelmplatz. Allerdings geht es nicht ganz so schnell voran, wie er es sich wünscht – das liegt auch an zeitweise fehlenden Radwegeplanern in der Verwaltung.
Michael Kopatz war 20 Jahre bei der SPD, bevor er 2013 zu den Grünen wechselte, für die er sechs Jahre ehrenamtlich im Rat von Osnabrück saß. In Marburg ist er nun Stadtrat für die Klimaliste, besucht aber auch Fraktionssitzungen der Marburger Grünen. Trotzdem findet er Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) in Klimafragen überzeugender als Bürgermeisterin Nadine Bernshausen (Grüne): „Für einen Sozialdemokraten ist unser OB beim Thema Verkehrswende außerordentlich ambitioniert. Davor ziehe ich den Hut“, sagt er. Dagegen möchte er über seine Kollegin von den Grünen lieber nichts sagen. Intern ist allerdings bekannt, dass die beiden sich ziemlich beharken.
Stadtrat Kopatz ist überzeugt davon, dass man beim Klimaschutz nicht vorankommen könne, ohne sich auch unbeliebt zu machen. Die Art der Diskussion und das „absichtliche Missverstehen“ schockiert ihn mitunter dennoch: „In der Forschung hört man einander zu, um möglichst genau zu verstehen, was der oder die andere meint, um Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Hier ignoriert man, was der andere sagt.“ Und dass so viel gelogen werde, finde er auch „schwierig“. Als Beispiel nennt er den CDU-Wahlkampfslogan von der Oma, die in Zukunft angeblich mit dem Lastenrad zum Arzt nach Marburg fahren müsse. „Das ist schlimme Polemik“, sagt er.
Dennoch würde er nach dem Ablauf seiner Amtszeit 2028 gern bleiben und sich einer Wiederwahl stellen. Selbst etwas zu bewegen und zu gestalten, sei etwas ganz Besonderes. Dabei hält er seine Unabhängigkeit für einen Vorteil: „Ich muss keinem gefallen“, sagt Kopatz.
Gesa Coordes
Der Akteneinsichtsausschuss
Stadtrat Kopatz musste sich seit Februar vor einem Akteneinsichtsausschuss verantworten. Der Grund: In der Bauverwaltung hatte es eine Panne gegeben, durch die der Stadt bei der Sanierung der Sophie-von-Brabant-Schule Fördermittel des Bundes und des Landes entgangen sind. Dabei handelte es sich um Fördergelder in Höhe von 1,56 Millionen Euro, die versehentlich nicht beantragt wurden. Den tatsächlichen Verlust für Marburg bezifferte Kopatz aber auf rund 150.000 Euro, weil zumindest zum Teil neue Fördermittel beantragt werden konnten.
Der Akteneinsichtsausschuss kam allerdings zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände in einer überlasteten Verwaltung gehandelt habe. Kopatz sei politisch verantwortlich, so die Ausschussvorsitzende Alexandra Klusmann. Persönliche Schuld stellte der Akteneinsichtsausschuss nicht fest: „Von seiner Seite aus war alles korrekt“, sagt Klusmann. Der Stadtrat habe nicht – wie einst Verkehrsminister Andreas Scheuer bei der Pkw-Maut – wider besseren Wissens gehandelt. Die CDU sprach dennoch von „erheblichem Organisationsversagen seitens des Dezernenten“. Begrüßt wurde, dass er seitdem einen Mechanismus eingeführt hat, der sicherstellt, dass sich der Vorgang nicht wiederholen kann.
gec