Der Start war holprig: Als der Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) vor fünf Jahren sein Amt antrat, gingen Eltern gegen geplante Kindergartengebühren auf die Straße. Es gab Streit um die städtischen Finanzen, mögliche Kürzungen und die persönlichen Umgangsformen. Seitdem ist es vergleichsweise ruhig geworden. Spies arbeitet weitgehend geräuschlos in einem Bündnis mit der CDU und den “Bürgern für Marburg” zusammen. Aus dem Rathaus hört man keinen Streit. Und Spies macht sich stattdessen einen Namen mit dem Corona-Hilfspaket und Aktionen gegen Rechtsextremismus.
“Ich musste eine Menge lernen”, sagt der Sozialdemokrat im Rückblick. Er habe unterschätzt, dass die Arbeit auf den Oppositionsbänken im Wiesbadener Landtag nach ganz anderen Kriterien abläuft und dass es in der Kommunalpolitik viel mehr um oft kleinteilige, ganz praktische Lösungen geht. Der ausgebildete Arzt war vor seinem Wechsel an die Stadtspitze 15 Jahre lang Landtagsabgeordneter, wo er als Experte für Gesundheit und Wissenschaft punktete. Er habe auch lernen müssen, dass Diskussionsanstöße wie die um den Allnatalweg als fertige Pläne wahrgenommen werden. Zudem sei er bei Amtsantritt zunächst auf ein Haushaltsloch von 40 Millionen Euro gestoßen. Inzwischen sehe er die finanzielle Situation der Stadt wesentlich gelassener. Und da die Produktionsstätte für den Corona-Impfstoff von Biontech in Marburg liegt, dürfte sich das Stadtsäckel weiter füllen.
Und wie geht es Spies, der im Landtag als linker Sozialdemokrat galt, im Bündnis mit der CDU? “Schauen Sie sich unsere Politik an”, sagt der OB. In den vergangenen Jahren seien die Aufwendungen für Soziales um ein Drittel, die für die Kultur um etwa 30 Prozent gesteigert worden. Es seien 500 neue Kindergartenplätze und neue Radspuren eingerichtet, eine Sozialwohnungsquote, ein ÖPNV-Ausbau für die Außenstadtteile und ein Klimaaktionsplan eingeführt worden. Dazu kam das mit den Schulen vereinbarte 31 Millionen Euro starke Bildungsbauprogramm Bibap und eine Bürgerbeteiligung, die auch sozial Benachteiligte, Jugendliche und Frauen mehr einbezieht. Neu eingeführt hat Spies den Fachdienst “Gesunde Stadt”, der viele Präventionsprogramme anstieß und unterstützte. Dass arme Menschen in Deutschland zwölf Jahre kürzer als Wohlhabende leben, möchte er nicht akzeptieren. Deshalb freut er sich auf das geplante Gesundheitszentrum im Marburger Waldtal.
Mit Neid blickten Nachbarstädte auf das Corona-Hilfspaket “Marburg Miteinander”, von dem die Marburger im vergangenen Sommer profitierten. Es gab 20- bis 50-Euro-Stadt-Gutscheine, mit denen die Umsätze in den zuvor geschlossenen Geschäften, Restaurants und Kulturbetrieben vor Ort erhöht wurden. Dazu kamen ein kulturelles Veranstaltungsprogramm, ein Förderprogramm für das Handwerk, I-Pads und Nachhilfegutscheine für Kinder aus benachteiligten Familien.
Für das wichtigste aktuelle Thema hält er den Wohnungsbau. In der Zeit von 2013 bis 2020 seien knapp 3000 Wohneinheiten, seit 2015 mehr als 400 Sozialwohnungen gebaut worden. Zahlen, die von den Marburger Grünen bestritten werden. Spies möchte auf jeden Fall, dass noch einmal 3000 Wohneinheiten gebaut werden.
Größter Schwachpunkt des Amtsinhabers: Es gibt einige Stimmen, die den 58-Jährigen für überheblich und allzu eitel halten. Immerhin: Sowohl im Rathaus als auch außerhalb polarisiert der gewandte Redner weniger als zuvor. “Er hört durchaus zu”, sagen Insider. “Er ist im Amt angekommen”, sagt ein Beobachter. “Ich nehme die Leute sehr ernst”, sagt er selbst.
Spies ist stolz darauf, wie viele Menschen in Marburg gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen: 7500 Menschen kamen zu der von der Stadt initiierten Demo im September 2018. Und der CDU-Landtagsabgeordnete Dirk Bamberger stand ebenso in der ersten Reihe wie der Linken-Landesvorsitzende Jan Schalauske und die grüne Fraktionsvorsitzende Elke Neuwohner. “Antifaschismus ist Teil meines Diensteides”, sagt Spies.
Der Oberbürgermeister war auch auf fast jeder Demonstration der Marburger “Fridays for Future”: “Sie haben in der Sache recht”, sagt der Sozialdemokrat. Auf die jungen Leute geht der fast einstimmige Beschluss zurück, nach dem für die Stadt Marburg ein Klima-Notstand ausgerufen wurde. Spies hatte ihn mit den “Fridays for Future” abgestimmt. Im Sommer 2019 wurde ein Klimaaktionsplan beschlossen, der die Stadt in den kommenden zehn Jahren 130 Millionen Euro kosten und noch viel mehr Investitionen anstoßen soll. Gefördert werden Gebäudedämmungen, Gründächer, Elektro-Räder, nachhaltige Nachbarschaftsprojekte, Solaranlagen und umweltfreundliche Heizungen.
Das Klimathema ist auch in seinem persönlichen Leben angekommen. Seit Anfang 2019 ist der passionierte Fußgänger nicht mehr geflogen. Stattdessen wanderte er im Urlaub auf dem Rothaarsteig und im Burgwald.
Gesa Coordes