Die CIA steckt hinter dem Anschlag auf das World Trade Center, die Flücht­linge werden durch eine globale Finanzoligarchie gelenkt, um Deutschland zu islamisieren, und das Coronavirus gibt es gar nicht. Prof. Michael Butter von der Universität Tübingen ist ein gefragter Experte für Verschwörungstheorien. Der 43-jährige Amerikanist leitet ein Netzwerk mit 160 Wissenschaftlern, das die Forschung zum Thema aus dem Blickwinkel von unterschiedlichen Disziplinen und mehr als 40 europäischen Ländern zusammenführt. Sein Bestseller – “Nichts ist, wie es scheint” – erlebt gerade die vierte Auflage. Die Zahl der Interviews zum Thema hat er schon nicht mehr gezählt.

Absehbar war dies nicht. Begonnen hat er mit den Untersuchungen nämlich lange vor Corona. 1999 – zum 30-jährigen Jubiläum der Mondlandung – stolperte er in einer Universitätszeitung zum ersten Mal bewusst über eine Verschwörungstheorie: Sehr seriös wurde da geschildert, dass es die Mond­landung nie gegeben habe. Und zumindest für einige Minuten – solange, bis er zur nächsten Seite mit der Auflösung umgeblättert hatte – glaubte Butter dies auch. Nach dem Studium in Freiburg und Norwich und der Promotion in Bonn und Yale habilitierte er sich 2012 über amerikanische Verschwörungstheorien. Das war lange vor Trump, dem Brexit und der Flüchtlingskrise.Noch 2015, als er das von der Europäischen Union geförderte Forschungsprojekt Compact gemeinsam mit Peter Knight von der Uni Manchester startete, stellte sich die Frage, ob dieser Schwerpunkt ihn ins Abseits katapultiere.

Doch gemeinsam mit seinen Kollegen wollte er mit gängigen Mythen auf­räumen – etwa dem, dass Verschwörungstheorien heute populärer seien als je zuvor. Tatsächlich gibt es zwar einen leichten Aufschwung durch die Corona­krise, bis in die 50er und 60er Jahre hinein waren Verschwörungstheorien aber viel einflussreicher und mächtiger als heute. Winston Churchill glaubte an die jüdische Weltverschwörung. Thomas Mann machte Freimauer und Illuminaten für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich. Und Abraham Lincoln glaubte an ein groß angelegtes Komplott der Sklavenhalter.

Anfang März veröffentlichte Butter gemeinsam mit Peter Knight das “Handbook of conspiracy theories”. Auf der Webseite des Compact-Projekts erschien ein Leitfaden, der kurz und verständlich das Wichtigste zusammenfasst, was die Forschung über Verschwörungstheorien weiß. Inzwischen ist er auch auf deutsch, spanisch, arabisch und weiteren Sprachen zu lesen. Er richtet sich ausdrücklich auch an Laien – Lehrkräfte, Politiker, Journalisten. Dazu gibt es sechs Podcasts, die inzwischen von mehr als einer Million Menschen auf der Welt gehört wurden (https://conspiracytheories.eu/).

Darin wird erst einmal erklärt, was eine Verschwörungstheorie – auch im Unterschied zu Fake News – eigentlich ist: Diese Theorien gehen davon aus, dass nichts durch Zufall geschieht. Wo andere Chaos sehen, entdecken Ver­schwörungstheoretiker einen perfiden Plan. Sie sind davon überzeugt, dass sie diejenigen sind, die hinter die Fassade blicken. Für viele Menschen sei es ein­facher zu akzeptieren, dass jemand im Hintergrund die Strippen zieht, als zu akzeptieren, dass Dinge passieren, die sich nicht immer klar in gut und böse unterteilen lassen, sagt Butter.

Und es seien durchaus nicht nur “paronoide Spinner”, die an Ver­schwörungs­theorien glauben, so der Wissenschaftler. Es gebe sie im gesamten politischen Spektrum, sogar bei Wissenschaftlern. Allerdings neigten Menschen mit extremen politischen Positionen, Männer und Ältere mehr zu Ver­schwörungs­theorien: “Es sind Menschen, die schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können”, sagt der Amerikanist. Verschwörungstheorien böten ver­meintliche Sicherheit, während Wissenschaftler und Politiker ihre Positionen ständig revidieren müssten.

Wie viele Menschen Verschwörungstheorien anhängen, ist von Land zu Land unterschiedlich: Für Deutschland geht Michael Butter von einem Drittel bis zu einem Viertel aus. In den USA ist es etwa jeder Zweite. Und in Osteuropa werden die Mythen sogar von Eliten verbreitet: Im polnischen Parlament sind alle politischen Parteien daran beteiligt. In Russland sind es die Staatsmedien. Und Ungarns Präsident Viktor Orbán hat den jüdischen Milliardär George Soros zum Staatsfeind erklärt, weil dieser angeblich eine gezielte Islamisierung Europas vorantreibe. “Das kann man sich in Deutschland nicht vorstellen”, sagt Butter. In Westeuropa habe seit den 50er Jahren ein Stigmatisierungsprozess für Verschwörungstheorien eingesetzt. Durch das Internet seien die in Subkulturen zusammengeschlossenen Verschwörungstheoretiker vor allem wieder sicht­barer. Der abgewählte US-Präsident Donald Trump ist nach Butters Über­zeugung übrigens eher ein Politiker, der Verschwörungstheorien strategisch etwa im Wahlkampf einsetzt.

Inhaltlich werden die Mythen von Land zu Land angepasst. In Deutschland dominieren Verschwörungstheoretiker, die davon ausgehen, dass es das Coronavirus gar nicht gibt oder dass es völlig harmlos ist. Es werde Panik geschürt, um einen globalen Impfzwang durchzusetzen oder die Wirtschaft neu zu ordnen, behaupten sie. Und dahinter stecke Multimilliardär Bill Gates. In Frankreich oder Italien, wo viel mehr Menschen starben, glauben sie an eine bewusst freigesetzte Biowaffe, mit der die Weltbevölkerung reduziert werden soll. In China geht es dann um eine amerikanische Biowaffe, im Iran um ein zionistisches Komplott.

Während viele Verschwörungstheorien harmlos seien, zeigten die Morde der Attentäter von Christchurch und Halle, dass manche auch dazu führen, dass Menschen gewalttätig werden, sagt Butter. Und wer glaube, dass alle Politiker Marionetten einer Verschwörung sind, ziehe sich entweder aus dem politischen Betrieb zurück oder wende sich populistischen Parteien zu. Auch bei medi­zi­nischen Fragen könnten Verschwörungstheoretiker andere in Gefahr bringen.

Am ehesten hilft Bildung, um nicht an abstruse Theorien zu glauben: “Wer aufgeklärt ist, ist signifikant weniger anfällig für Verschwörungstheorien”, sagt Butter. Überzeugte Verschwörungstheoretiker könne man mit Argumenten und Fakten allerdings nicht erreichen.

Gibt es eine Verschwörungstheorie, an die Butter selbst glaubt? “Ich neige dazu, alles zu glauben, was mit der Fifa zu tun hat”, sagt der Wissenschaftler: “Denen traue ich alles zu.”

Vortrag zu Verschwörungstheorien
vhs-Onlineveranstaltung von Michael Butter

Die Kreisvolkshochschule bietet am Dienstag, 1. Dezember, von 19:30 bis 21:00 Uhr einen Online-Kurs über die Merkmale und Wirkung von Ver­schwörungs­theorien. Inhalt: Was macht eigentlich eine Verschwörungstheorie aus, und warum glauben manche Menschen daran? Haben Ver­schwörungs­theorien in den vergangenen Jahren zugenommen, oder sind sie durch das Internet nur sichtbarer geworden? Ist das gefährlich für unsere Demokratie und was kann man dagegen tun?

Anhand aktueller und historischer Beispiele führt Prof. Michael Butter bei seinem Vortrag in das Wesen und die Wirkung von Verschwörungstheorien ein.

Die Teilnahme ist kostenlos und erfolgt online vom eigenen Endgerät aus. Eine vorherige Anmeldung online unter www.vhs.marburg-biedenkopf.de oder bei der vhs-Geschäftsstelle Marburg Land unter der Telefonnummer 06421/405-6710 ist erforderlich. Den Zugangslink zum Livestream sowie nähere Infor­ma­tionen zu den technischen Voraussetzungen erhalten Interessierte nach der Anmeldung. Anmeldeschluss ist Dienstag, 1. Dezember, 14 Uhr. Nichts ist, wie es scheint Seit 2015 Hunderttausende Flüchtlinge in die Bundesrepublik kamen, kursiert im Netz die Theorie vom “Großen Austausch”: Das Land solle von einer globalen “Finanzoligarchie” mittels der “Migrationswaffe” ausgeschaltet werden. Neben mangelndem Vertrauen in die Politik ist der Glaube an Verschwörungstheorien ein Merkmal des populistischen Brodelns. Doch was macht eine Erklärung zu einer Verschwörungstheorie? Warum sind sie für viele so attraktiv? Und was kann man dagegen unternehmen? Antworten auf solche Fragen findet man seltener als Verschwörungstheorien selbst. Michael Butter erläutert, wie solche Erzählungen funktionieren, wo sie herkommen und welche Auswirkungen sie haben können. Da sie die Eigenlogik sozialer Systeme unterschätzten, seien solche Theorien zwar immer falsch; als Symptom müsse man sie dennoch ernstnehmen. Gegenwärtig seien sie ein Indikator für die demokratiegefährdende Fragmentierung der Öffentlichkeit. Michael Butter, Nichts ist, wie es scheint, Suhrkamp Verlag, 18 Euro, ISBN: 978-3-518-07360-5

Gesa Coorde

Bild mit freundlicher Genehmigung von NASA