In Jahrtausende alten Schriftdokumenten finden sich immer wieder Hinweise auf Metallobjekte, die wie die Himmelsscheibe von Nebra geformt sind – das hat der Marburger Archäologe Andreas Müller-Karpe herausgefunden. Das bedeutet auch: Es könnte mehrere Himmelsscheiben geben.

Andreas Müller-Karpe von der Philipps-Universität forscht zu sogenannten Keilschrifttexten. Das sind Texte, die aus dem Vorderen Orient stammen und mehr als 5000 Jahre alt sein können. Dabei werden mit einem Griffel waagrechte, senkrechte und schräge Striche in Tafeln aus weichem Ton gedrückt, sodass keilförmige Vertiefungen entstehen. In Anatolien (auch Kleinasien) hat man große Archive mit solchen Keilschrifttexten entdeckt – mittlerweile zu Scherben zerbrochen.
Für seine Recherchen hat Müller-Karpe viele Tontafeln analysiert, die von den Hethitern stammen – einem Volk, das im zweiten Jahrtausend vor Christus in Anatolien lebte. Dem Archäologen fiel dabei eines besonders ins Auge: Die Texte beschreiben häufig speziell bearbeitete Metallobjekte. Flache, runde Werkstücke, auf denen eine Mondscheibe und Sterne appliziert sind – Beschreibungen, die genau auf die Himmelsscheibe von Nebra passen.

Müller-Karpe argumentiert deswegen, die Himmelsscheibe von Nebra könnte einen anatolischen Hintergrund haben. Möglicherweise ist sie auch nicht die einzige Darstellung des Himmels aus der Bronzezeit: “Angesichts der lückenhaften Überlieferung mag das Stück singulär erscheinen,” so Müller-Karpe, “es gibt jedoch durchaus Hinweise darauf, dass es ursprünglich kein Einzelstück war.” Seiner Ansicht nach waren Himmelsdarstellungen im Anatolien der Bronzezeit recht häufig. Dort sollen sie als Ausstattung von Tempeln gedient haben, wie es in den Keilschrifttexten heiße.
Abbildungen von Sonne, Mond und Sternen habe es aber nicht nur als Metallreliefs gegeben – auch Brotfladen sollen so geformt gewesen sein. “Sterne aus Teig und eine Mondsichel aus Teig drückt man auf ein Brot aus 3 Handvoll Mehl und nennt es Brot der Nacht,” zitiert Müller-Karpe aus einem Ritualtext. Das ‘Brot der Nacht’ soll bei Ritualen und um Schwangerschaft und Geburt gereicht worden sein.

Seine These stützt Müller-Karpe auch darauf, dass sich die Himmelsscheibe von Nebra in der Machart erheblich von den Artefakten unterscheide, die am selben Ort geborgen wurden. Am Fundort Himmelsscheibe, dem Mittelberg nahe der Stadt Nebra in Sachsen Anhalt, lagen auch Bronzeschwerter, zwei Beile, ein Meißel und Teile von Armreifen vergraben. Die Schwerter etwa seien handwerklich viel aufwendiger gefertigt, argumentiert Müller-Karpe. Das spreche dafür, dass die Himmelsscheibe aus einem anderen kulturellen Kontext stammt.

Aus Anatolien sind keine Metallobjekte bekannt, die mit der Himmelsscheibe von Nebra vergleichbar wären. Das liege daran, dass es dort bei weitem nicht so viele Ausgrabungsstätten wie in Mitteleuropa gibt, erklärt Müller-Karpe. Seiner Einsätzung nach steigert das jedoch das Ansehen der ‘deutschen’ Himmelsscheibe. “Hätte man die Himmelsscheibe in einem hethitischen Tempel gefunden, wäre ihr kaum eine derartige Aufmerksamkeit zugekommen,” vermutet der Archäologe. “Rasch wären die Parallelen in zeitgenössischen Texten benannt worden.”

Andreas Müller-Karpe lehrt Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Philipps-Universität Marburg und leitet dort das Vorgeschichtliche Seminar. Seine Recherchen hat er in der aktuellen Ausgabe der “Schriften aus dem Vorgeschichtlichen Seminar Marburg” veröffentlicht.

LB/pe

Bild mit freundlicher Genehmigung von LDA Sachsen-Anhalt