Solarstrom aus der Fassade, Wärmerückgewinnung und vertikale Gärten: Das Ärztehaus am Marburger Hauptbahnhof soll das erste klimaneutrale radiologische Zentrum Deutschlands werden. Seit Sommer produziert die spiegelglatte Front des Gebäudes Strom. Dafür wurde das aus den 80er Jahren stammende Gebäude komplett umgebaut.

Alleiniger Inhaber und Einzelunternehmer ist seit dem plötzlichen Tod seiner Partner Ende 2016 der Marburger Neuroradiologieprofessor Siegfried Bien. Bien war damals noch Professor an der Philipps-Universität – Schwerpunkt interventionelle Radiologie – und war lediglich stiller Teilhaber gewesen. Im MVZ hatte er seine Patienten ambulant weiterbehandeln lassen. Damals habe er sich entschieden, die Ärmel hochzukrempeln und das in die Jahre gekommene Versorgungszentrum neu aufzubauen.

Erster Schritt: Die veraltete Geräteausstattung wurde komplett erneuert. Dazu gehören auch die drei Magnetresonanztomographie-Geräte (MRT), deren Elektromagnete konstant mit flüssigem Helium auf minus 230 Grad tiefgekühlt werden müssen. Sie sind für den riesigen Stromverbrauch des radiologischen Zentrums verantwortlich. Jedes Jahr werden etwa 650.000 Kilowatt Strom verbraucht. Das entspricht dem Verbrauch von rund 200 Durchschnittshaushalten.

Dass die Welt nicht beliebig viele Ressourcen hat, ist Bien aber schon seit den 70er Jahren klar. Damals las er den Ökologie-Klassiker von den „Grenzen des Wachstums“: „Das hat mich für mein Leben geprägt“, sagt der Neuroradiologe. Seine Jugendstilvilla am Marburger Rotenberg ist schon seit 2001 klimaneutral. An der Universität gründete er 2005 die Arbeitsgruppe „CO2-neutrale Universität“ und war rund zehn Jahre lang ehrenamtlicher Beauftragter für die CO2-Reduktion an der Hochschule.

Bei der Untersuchung des fünfstöckigen Gebäudes stellte sich heraus, dass die Dämmung komplett durchfeuchtet und das Dach teilweise undicht war. Zunächst wurde das Flachdach saniert, mit Photovoltaik-Anlagen bestückt, dazwischen ein Dachgarten mit Lavendel, Eiben und Gräsern angelegt.

Zum Pilotprojekt wurde die Fassade des bis dahin tristen Ärztehauses aus den 80er Jahren: Darauf wurden 120 maßgefertigte PV-Module gesetzt, die Strom produzieren. Vier Millionen Euro hat die ungewöhnliche Fassade gekostet, die nun dunkel schimmert. Auch das Geschäftsmodell ist ausgeklügelt: Bien ist zwar der Bauherr. Finanziert werden die Module jedoch mithilfe von 46 privaten Investoren – unter ihnen auch der Bund für Umwelt und Naturschutz -, die nun 20 Jahre lang mit einer Rendite von fünf Prozent belohnt werden. Die Fassade ist nämlich ein sogenanntes Bürgerkraftwerk des Vereins Sonneninitiative.

Die Kollektoren auf dem Gebäude schaffen derzeit 50 bis 55 Prozent des Stromverbrauchs. Deswegen sollen die oberen Geschosse mit ihren Gauben so umgestaltet werden, dass auch sie mit Solarpaneelen versehen können. Zudem träumt Bien davon, im Boden rund um das Gebäude begehbare Photovoltaik-Platten einzulassen.

Das Ärztehaus am Hauptbahnhof mit Inhaber Siegfried Bien

Pläne hat er auch für den von Mülltonnen dominierten Hinterhof: Hier sollen vertikale Gärten entstehen, die über mehrere Stockwerke an der Rückseite des Gebäudes emporranken.

Weiter ist er mit der zweiten Nutzung der drei MRT, deren Abwärme bis vor wenigen Wochen noch auf den Hinterhof geblasen wurde. Nun wird die Abwärme mittels Wärmetauscher zum Heizen verwendet. Dieser Wärmekreislauf soll das gesamte Ärztehaus völlig unabhängig von fossiler Energie machen. Bien ist davon überzeugt, dass die Abwärme ausreicht, um das Gebäude im Winter zu heizen. Derzeit wird allerdings noch überprüft, bei welchen Außentemperaturen es vielleicht doch Probleme gibt und wie groß der Pufferspeicher sein muss. Dazu wird das Modellprojekt von der Universität Kassel wissenschaftlich begleitet.

Betrieben wird die Anlage von den Marburger Stadtwerken, die einen 15-jährigen Wärmeliefervertrag zur Refinanzierung mit Gebäudeeigentümer Bien geschlossen haben. 50 Menschen, darunter zwölf Ärztinnen und Ärzte, arbeiten heute im MVZ. Den Medizinern verkauft Bien seine Abwärme zum Gaspreis von 2017 – „egal, was Putin noch macht“.

Unkompliziert sei das alles nicht, räumt Bien ein. Aber als Marathonläufer hat der 69-Jährige einen langen Atem. Und die Leute hätten ihn schon für verrückt erklärt, als er vor gut 20 Jahren seine Villa klimaneutral machte: „Alle haben gesagt, der spinnt, der Bien“, erzählt er: „Nach sieben Jahren war ich in den schwarzen Zahlen.“ Nun hofft er, dass sein Projekt zum Vorreiter für andere Radiologiezentren in Deutschland wird.

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes