Der Marburger Kamerapreis wird dieses Jahr an den Bildgestalter Benedict Neuenfels verliehen, weil sein Gesamtwerk durch Innovationskraft und Experimentierfreude besticht. Der 57-Jährige hat u. a. mit Wim Wenders zusammengearbeitet und wirkte beim oscarprämierten Film „Die Fälscher“ (R.: Stefan Ruzowitzky, 2007) mit. Im Gespräch mit dem Express erzählt Neuenfels vom Skandal-Film „Der Felsen“, dem Kino in der Krise und seiner langjährigen Beziehung zum Marburger Kamerapreis sowie der Philipps-Universität.

Express: Hallo Herr Neuenfels, wo erreiche ich Sie gerade?

Benedicct Neuenfels: In Berlin. Die letzten Wochen war ich viel unterwegs in USA, Kanada, Spanien, weil ich an drei Projekten gleichzeitig arbeiten muss, um am Ende vielleicht eines drehen zu können. Klingt cool, ist es aber nicht. Anders als in der Streaming-Branche, wo die Abhängigkeit von Förderungen gering ist, haben wir Bildgestalter/innen von Kinofilmen damit zu tun, dass wir oft zwei bis drei Projekte in der Entwicklungsphase parallel erarbeiten müssen. Weil die Kino-Filme oftmals nicht final finanziert sind, wenn wir in die Vorbereitung mit großem Stab gehen, wissen wir oft nicht, ob überhaupt die „Klappe” zum Dreh geschlagen werden kann. Das ist ein Risiko für alle Beteiligten und hat in Deutschland mit der Struktur des föderalen Fördersystems zu tun.

Ist das eine neue Entwicklung?

Nein, aber dieser Zustand verschärft sich. Gerade in Deutschland wird der Film ja in einer Weise produziert wie kein anderes vergleichbares Millionen-Produkt: Wenn man z.B im August einen Kinofilm drehen möchte, dann weiß der Produzent/tin womöglich im Juli noch nicht, ob er/sie final finanziert ist. Da sollten die Vorbereitungen lange begonnen haben und dafür braucht man Kapital, weil Mitarbeiter seit Wochen bezahlt werden wollen. Verträge können nicht geschlossen werden. Es drohen somit immer die kurzfristige Absage oder fundamentale Einschnitte, die eine vernünftige Planung der Dreharbeiten unmöglich machen. Sagt man der Förderung, wir wollen länger vorbereiten und nicht gleich drehen, dann kommt als Antwort: „Na dann bewerbt Euch nächstes Jahr.“ Wie absurd.
Es ist somit nachvollziehbar, daß viele Kollegen/innen lieber für Streamingdienste oder das TV arbeiten, weil die Budgets dort sicher sind. Die Folge: Der Kinofilm hat sowohl finanziell als auch ästhetisch viel Reiz eingebüsst.
Es existieren einige Ideen zur Novellierung dieses Filmfördergesetzes. Die liegen seit 2018 im Kultusministerium – ohne erkennbaren Ratifizierungswillen der verschiedenen Regierungen.

Was macht das mit Ihrer Arbeit?

Sie wird schlechter, ich fühl mich schlechter, ich bin schlechter, heißt: ich und meine Projekte „leiden“. Noch weniger Zeit mit noch weniger Geld, diese Formel verspricht genau das: wenig Erfolg. Filmemachen wirkt dann eher sportlich und man hört sich sagen: „Cool, gestern 28 Einstellungen gedreht, geschafft!“ Existenznöte drängen dann in den Vordergrund.

Was hat dann ein Preis wie der Marburger Kamerapreis für Sie zu bedeuten?

Er ist eine besondere Würdigung. Es wird ein Gesamtwerk ausgezeichnet, nicht nur ein Projekt: Der Preis wurde nie an Kollegen oder Kolleginnen vergeben, die zwei gute, sondern eher ein Dutzend gute Filme gedreht haben.
Sowas gibt es sonst nirgendwo. Die meisten Auszeichnungen beziehen sich auf eine einzige Arbeit und es wird eine mehr oder weniger pompöse Preisverleihung veranstaltet.
In Marburg ist man drei Tage, setzt sich miteinander auseinander, redet über Bildsprache mit unterschiedlichsten Menschen und zeigt mehrere eigene Filme. Der Marburger Kamerapreis ist damit nicht nur irgendeinen Preis, sondern eine leidenschaftliche Auseinandersetzung um die Bildsprache. Das macht Marburg seit über 20 Jahren und ich war auch in den Anfängen dabei. Seitdem hat sich Marburg zu einem wissenschaftlichen Zentrum für Bildsprache und deren Wahrnehmung entwickelt.
Zusammen mit Toruń in Polen („EnergaCAMERIMAGE“) ist der Marburger Kamerapreis die weltweit ernsthafteste Würdigung unseres Berufstandes, der in Deutschland oft leider nur als technischer Beruf angesehen wird und wir hier Kameramann oder -frau genannt werden, im Gegensatz zum Rest der Welt, wo es immer den Director/Regisseur in der Berufsbezeichnung hat, z.B. Director of Photography.

Was stört Sie an der Bezeichnung Kameramann?

Dass ich gestalte und eine Autorenschaft für diese Bildgestaltung inne habe, wird dadurch nicht klar. Wer ist für das Licht/ Stimmung/ Raum verantwortlich? Wir reden hier ja nicht von einem schönen Sonnenuntergang, sondern von der Aneinanderreihung von vielen Einzel-Bildern, die ein Ganzes ergeben sollen. Das ist Bilddramaturgie. Ein „geiler“ Sonnenuntergang bringt da nix. Bei einem langsam geschnittenen Film reden wir von circa 500 Einzelbildern, bei einem Action-Film von zweieinhalb Tausend und mehr.

Werkstattgespräche im Capitol

  • Freitag, 5. Mai, 17 – 18 Uhr 30: Werkstattgespräch mit Prof. Dr. Elisa Linseisen (Juniorprofessorin, Universität Hamburg)
  • Samstag, 6. Mai, 11 Uhr 45 – 13 Uhr 15 Werkstattgespräch mit Philipp Stadelmaier (Filmkritiker und Autor)
  • Samstag, 6. Mai, 16 Uhr 50 – 18 Uhr 20: Werkstattgespräch mit Jutta Pohlmann (Kamerafrau/DoP, Berlin)

Was ist Ihnen bei Ihrer Arbeit als Bildgestalter wichtig?

Raus aus der Komfortzone – mehr erzählerisches Risiko eingehen.
Weg mit den TV-Beratern bei Kinofilmen. Think Tanks mit den Heads of Departments, bevor irgendein Produktionsleiter/in sich anmaßt, ein Projekt finanziell zu kalkulieren. Das geht immer schief! Kinofilmsprache muss sich von der TV-Sprache abgrenzen. Kino muss formal und inhaltlich essayistischer werden. Kausalität ist für die Glotze, Assoziation für den schwarzen Raum-Kino. Der bleibt magisch!
Das sieht man bei den internationalen Filmfestivals, wo wenige Filme laufen, die reines Storytelling betreiben. Wir Filmemacher suchen händeringend den besonderen Blick im KINO, um uns von Netflix und Co abzugrenzen. Das ist wichtig, wenn wir das Medium weiterbringen wollen, das als Nächstes mit KI arbeiten wird und mehr und mehr in die virtuelle Welt geht. Mein Ziel ist es, diese neuen Bilderwelten als Erlebnis in die Kinos zu bringen.

Wieso braucht das Kino diese Entwicklung?

Einerseits weil es mehr und mehr zur Nische wird. Aber das Publikum wird auch unterschätzt. Es kann dramaturgisch verschränkte, schnelle und unangepasste Bilderwelten besser verstehen als viele Programmdirektoren meinen.

Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie in den Anfängen des Marburger Kamerapreises dabei waren. Inwiefern?

Bei den ersten Marburger Kamerapreistagen hielt ich einen Vortrag. Die Beziehung zu Marburg blieb. Später, als ich „Der Felsen“ auf Mini-DV drehte, war das ein Riesenskandal auf der Berlinale und die Philipps-Universität war maßgeblich dafür verantwortlich, das Phänomen der Empörung zu untersuchen und die polemische Note zu nehmen.

Was ist bei „Der Felsen“ (R.: Dominik Graf, 2002) passiert?

Wir wollten den Film ja gar nicht mit der kleinen Kamera drehen, waren aber schon in Korsika, als plötzlich kein Geld mehr da war. Ich hatte kurz vorher auf einer kleinen Consumer-Kamera Versuche mit dem Fraunhofer-Institut gemacht, dieses elektronische Bild auf Film zu transferieren. Das schlug ich in der Not der Situation vor, und der Film bekam einen neuen Twist.

Ist diese Art der Arbeit typisch für Sie?

Die Genesis hat mit mir zu tun. In der Komfortzone werde ich nervös, und die Dreharbeiten haben hier nur funktioniert, weil wir uns auf Neues eingelassen haben. Wir haben einen anderen Blick zum Stoff aufgrund eines Mangels (Geld) erlangt. Man darf sich in unserer Branche nicht von seinem Geschmack aufhalten lassen, der steht einem meistens im Weg. Es hat sich gezeigt, dass man manchmal erkennt, dass in etwas Potenzial steckt, von dem man dachte, man würde es nicht mögen. Ich muss mir Geschmack ein bisschen verbieten.
Oft, gerade in amerikanischen Filmen, sehen wir „Backlit Situationen“, wo das Licht von hinten kommt, sodass man einen schönen Shape von Körpern und eine hohe Dreidimensionalität kreiert. Wir kamen durch Zufall darauf, jemandem ein brutales Frontallicht zu geben, was man normalerweise nicht macht. Das war für den Ausdruck der Figur in der Geschichte die bessere Wahl. Unser Geschmack hätte uns bzw. mich nicht dahingebracht. Das meine ich: Man muss sich Geschmack erst verbieten, um sich Geschmack zu erarbeiten.
Aber erstmal bin ich dem Drehbuch verpflichtet, und wir müssen einlösen, was dort steht, und dafür ist mein Team sehr wichtig.

Also ist Bildgestaltung Teamarbeit?

Ja, alleine schaffe ich das nicht. Ich versuche, die Fragen und Herausforderungen zu erarbeiten, zu bündeln, zu decodieren, um in Gesprächen mit meinen Mitarbeitern Ideen und Umsetzungsansätze zu provozieren. So entstehen Synergie-Effekte. Das ist mein Leistungsprofil als „Kopf“ der Bildabteilung. Wenn ich diese Teamleistung nicht nutze und/oder wertschätze, gehe ich präpotent als Künstler durch die Welt. Das ist historisch legitim, aber dieses Selbstbild habe ich nicht. Seit Längerem habe ich einen festen Kern an Leuten, auf die ich mich verlassen kann. Neue ausländische, teils sehr junge Kollegen/innen kommen hinzu. Bildsprache ist international.
Bei größeren Filmen habe ich ein vielfach größeres Team als die Regie – teilweise 30, 40 Leute. Da muss man sozial kompatibel sein, offen, fair und doch bestimmt. Wir dürfen keinen einzigen schlechten Tag haben – das ist der Deal! Ein Drehtag für einen Kinofilm kostet mitunter 100.000 Euro. Teamarbeit ist hier für mich essenziell. Wenn meine Leute nicht mit einem ähnlichen Verständnis und Wissensstand bei der Sache wären, würden wir mit dem Zeitdruck, den wir heutzutage haben, gar nicht durchkommen. Mein Team ist oft wie Familie auf Zeit. Früh war ich fasziniert davon, wie wichtig das ist – diese Art Fairness zum Leben und Humanismus in der Arbeit habe ich mir von meinen Vorbildern abgeschaut.

Welche waren das?

Mein Vater war cool, fair, leidenschaftlich und tendenziell ungesellschaftlich im bürgerlichen Sinne – alles für die Kunst unter „menschlichen“ Konditionen. Meine Bild-Lehrmeister danach waren Xaver Schwarzenberger und Robby Müller, aber auch der Regisseur Wim Wenders war ein wichtiger Einfluss.
Abgesehen von den technischen Fertigkeiten lernte ich die Eleganz und Kunstfertigkeit in der Beleuchtung, wie Welten, Räume durch Licht und Bildausschnitt erschaffen werden und den Respekt, der den Darstellern gezollt wird. Sie sind das Wichtigste!

Interview: Leonie Theiding

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Peter Hartwig, Maike Maier und Christine Fenzl