Orhan Kaygisiz und sein Traumberuf

Die Scheinwerfer in der Beratungsstelle des Stadtallendorfer Steuerrings schraubt Orhan Kaygisiz selbst zusammen und baut sie so auf, dass Empfangsmitarbeiterin Viktoria Arendt gut ausgeleuchtet wird. Der Fotograf ist schon zum fünften Mal bei dem Lohnsteuerhilfeverein am Stadtallendorfer Marktplatz. Dieses Mal wünscht sich der Steuerring Videoaufnahmen für Instagram und für die Homepage. Der Leiter der Beratungsstelle, Fatih Tokcan, ist begeistert von Kaygisiz‘ „Super-Fotos“ und den gut ausgearbeiteten Drehplänen. Aber er mag auch den Menschen hinter der Kamera: „Dass er so positiv durchs Leben geht und dabei so professionell arbeitet, gefällt mir sehr“, sagt Tokcan.
Orhan Kaygisiz hat sich vorher genau überlegt, wie die Videostory aussehen sollen, die den typischen Besuch eines Steuerring-Kunden zeigt. Dazu nimmt er vor allem die Kamera, die einen Ringgriff mit einem sogenannten Gimbel hat. Damit kann er lange Videosequenzen aus der Hand fotografieren. Zugleich entlastet der Ringgriff seine Arme, die er lange Zeit hochrecken muss. Kaygisiz dreht eine Totale, nimmt die Begegnungen zwischen Beratern und Kunden auf und achtet auf Details.

Dass Orhan Kaygisiz dabei einen Arbeitsassistenten braucht, fällt auf den ersten Blick kaum auf. Harun Kaygisiz reicht ihm zwar die schweren Kameras an und rangiert den Rolli immer wieder so, dass die Aufnahmen gelingen. Seine Unterstützung ist aber so dezent, dass man sie kaum bemerkt. Zugleich ist er präsent, sobald ein anderes Objektiv gebraucht oder eine Treppe überwindet werden muss. „Er ist meine Arm- und Bein-Verlängerung“, sagt Orhan Kaygisiz.
2020 genehmigte ihm der Landeswohlfahrtsverband zunächst zehn Stunden Arbeitsassistenz pro Woche. Nachdem sich das Unternehmen – es hat den Namen „Kori’s Perspective“ – erfolgreich entwickelt hat, wurden die Stunden 2022 auf 18 erhöht. Damit gehört Orhan Kaygisiz zu den rund 70 Selbstständigen, die vom hessischen Integrationsamt mit einer Arbeitsassistenz unterstützt werden.
Bei Orhan Kaygisiz teilen sich zwei Helfer die Aufgabe – darunter auch sein Bruder Harun: „Ich hatte erst Bedenken, meinen eigenen Bruder zu nehmen, weil es merkwürdig aussehen könnte“, sagt Orhan. Doch damals brauchte er schnell einen Ersatz für einen Assistenten, der wegen einer Ausbildung aufhörte. Zudem kennen sich die beiden so gut, dass meist kaum Worte nötig sind, damit Harun weiß, was sein Bruder gerade braucht. Dabei sind sie recht unterschiedlich. Harun Kaygisiz ist eher still und zurückhaltend. Fotografieren kann er nach eigener Einschätzung nicht besonders. Orhan ist kontaktfreudiger. Für seinen Bruder ist die Arbeitsassistenz aber auch eine willkommene Abwechslung zu seinem regulären Job als Maschinen- und Anlagenführer bei der Eisengießerei Winter.

Der 29-jährige Orhan Kaygisiz arbeitet als Fotograf und Videofilmer in Stadtallendorf.

Orhan Kaygisiz wurde mit der sogenannten Glasknochenkrankheit geboren, einem Genfehler, der dazu führt, dass nicht genügend Kollagen für die Knochen gebildet werden kann. In seiner Kindheit und Jugend erlitt er mehr als 24 Knochenbrüche. Besonders betroffen waren die Beine, sodass eines nun rund sieben Zentimeter kürzer als das andere ist. Er kann zwar kurze Strecken laufen, sitzt aber schon sein Leben lang im Rollstuhl.
Der Weg zu seinem Traumjob war weit: Orhan Kaygisiz ist der Enkel türkischer Einwanderer. Aufgewachsen ist er in Stadtallendorf, wo rund die Hälfte der Bürger ihre Wurzeln in der Türkei, Russland, Italien, Polen oder Griechenland haben. Sein Vater arbeitet beim Süßwarenhersteller Ferrero, seine Mutter als Qualitätsmanagerin beim Design-Zubehör-Unternehmen Seidel. Er selbst sollte eigentlich eine Sonderschule besuchen, durfte dann aber doch in die Regelschule, wo er einen Hauptschulabschluss machte. Die Schulzeit war immer wieder durch monatelange Krankheitszeiten unterbrochen. Außerdem habe er eine Zeit gebraucht, „um nicht mehr den Klassenclown spielen zu müssen“, erzählt Kaygisiz. Er holte den Realschulabschluss nach, machte Fachabitur und studierte Medienwissenschaften an der Marburger Philipps-Universität.

„Seitdem geht es mir gut“, sagt der heute 29-Jährige. In den vergangenen neun Jahren hat er sich kaum Verletzungen zugezogen. Dass er 2020 seinen Bachelor schaffte, erklärt er auch mit seinem „Sturkopf“. Barrieren seien dazu da, gesprengt zu werden, sagt der Deutsch-Türke. Und er sucht gleich sein Lieblingsfoto heraus. Es zeigt ihn auf einem Pferd sitzend vor einem Vulkan in Mexiko. Reisen ist schließlich sein zweites großes Hobby.
Auf das Fotografieren kam er schon als Jugendlicher. Um mit seinem Hobby Geld zu verdienen, begann er zunächst mit Fotos von Feiern und Geburtstagen. Sein Glück: Von Anfang an hatte er eine Unternehmensberatung als festen Auftraggeber, für deren Kunden er Fotos, Videoclips, Bilder für Social Media und Werbung macht.

Unterstützung braucht er nur an Dreh- und Fototagen. Wenn er Fotos bearbeitet oder die Sequenzen aus den Videos zusammenschneidet, arbeitet er allein. Zudem hilft ihm seine Ausrüstung. Dazu gehört auch eine sogenannte Exo-Skelett-Kamera, die Kaygisiz eher an „Terminator III“ erinnert. Dabei handelt es sich um eine stützende Weste mit einem sogenannten Galgen, an der die Kamera hängt. Auf diese Weise kann er das Gewicht der acht Kilo schweren Kamera länger halten. „Technik ist Freiheit“, sagt Kaygisiz: „Sie sorgt dafür, dass die Behinderung immer mehr zur Seite tritt.“

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Rolf K. Wegst