Mit einem Sofortprogramm über 3,7 Millionen Euro will die Stadt das wirt­schaftliche, soziale und kulturelle Leben in Marburg in der Corona-Krise stabilisieren. Das finanzielle Schwergewicht im 14-Punkte-Plan ist der “Stadt-Geld-Gutschein”: Mit ihm sollen Marburgs Gewerbetreibende binnen sechs Wochen mehrere Millionen Euro Umsatz machen. Dazu kommen Mieterschutz, vergünstigte Park- und Bustickets, Kampagnen zum lokalen Einkauf, außerdem Förderung von Schülern, Senioren, Handwerk und Bauwirtschaft, der Erlass städtischer Gebühren, die Stundung von Steuern und mehr.

“Wir sind mitten in einer Krise von noch nie dagewesener Dimension. Das verlangt hier in Marburg mutige Lösungen von ebenso außerordentlicher Dimension, um unsere lebendige Stadt zu erhalten. Wie wichtig dafür der kleine Einzelhandel, Gastronomie und Kultur sind, haben wir während des Lockdown schmerzlich gespürt. Zugleich gilt in Marburg, dem sozialen Herz Deutschlands: Wir kümmern uns um fairen Ausgleich und um die, die besonders belastet sind”, sagt Oberbürgermeister Thomas Spies.

Die Vorlage “Marburg Miteinander – Gemeinsam sicher durch die Krise” ist am Montag im Magistrat angenommen worden. Am Freitag, 29. Mai, liegt das Pro­gramm den Stadtverordneten zur Abstimmung vor.

Die Schwerpunkte des “Marburg-Miteinander”-Programms:

1,9 Mio. Euro und damit mehr als die Hälfte des gesamten Pakets entfällt auf den “Stadt-Geld-Gutschein” – ein neues und einmaliges Gutschein-System zur Stärkung des örtlichen Gewerbes. Alle erwachsenen Marburger erhalten einen Gutschein über 20 Euro, alle Kinder und Jugendlichen einen über 50 Euro. Die Stadt gibt so rund 76.000 Gutscheine aus, gültig für sechs Wochen. Damit kann in Läden, Gastronomie, Kultureinrichtungen sowie bei Dienstleistern eingekauft werden, die wegen der Pandemie monatelang geschlossen waren.

Sowohl kurz- als auch langfristig wirkt das Programm “Sicher Wohnen” im Maßnahmenpaket. Es besteht aus einem Mietendeckel für GeWoBau-Wohnungen, der Zusicherung, dass bei Corona-bedingten Zahlungsausfall Wasser und Strom trotzdem fließen, kurzfristige zusätzliche Unter­bringungs­möglichkeiten für von Gewalt bedrohte Frauen und Kinder, für Obdachlose, für Geflüchtete. Ebenfalls enthalten ist ein Marburger Notfallfonds zum Mieter­schutz, die greift, wenn Corona-bedingte Mietschulden nicht getilgt werden können. Volumen: ca. 210.000 Euro.

Insgesamt 120.000 Euro sind vorgesehen, um ab Anfang Juni Parkscheine im Parkhaus Oberstadt und Bustickets (Einzelfahrscheine) für Kunden der Mar­burger Gewerbetreibenden zu bezuschussen. Dazu kommt eine kurzfristige Werbe- und Anzeigenkampagne “Komm nach Marburg” in der Region (15.000 Euro).

Der erfolgreich gestartet iPad-Verleih für Schüler soll erweitert und mehr Geräte angeschafft werden. Nachhilfegutscheine für alle Stadtpass-Kinder sind ebenso veranschlagt wie kostenfreie Internet-Zugänge für Schüler bei Bedarf. Kostenansatz für “Bildungschancengleichheit” im Gesamtpaket: 150.000 Euro.

Ebenfalls kurzfristig soll der Programmpunkt “Sicher in die Stadt” für ältere Mitbürger greifen, die in der Corona-Krise als Risikogruppe nicht den ÖPNV nutzen wollen oder können. 50.000 Euro sollen für Taxi-Gutscheine zur Verfügung stehen, verteilt über die niedergelassenen Ärzte, zu nutzen für Fahrten zum Arzt, zur Physiotherapie oder einfach zum Einkaufen.

Parallel baut die Stadt ihren digitalen Service weiter aus. Außerdem entwickelt sie neue, digitale Beteiligungsformen und gute barrierefreie Online-Verfahren, damit Veranstaltungen und Diskussionsrunden nicht ausfallen, damit die notwendige Beteiligung und Mitwirkung an Vorhaben der Stadt weiterhin möglich sind. Volumen für zusätzliche technische Ausstattung insgesamt: 150.000 Euro.

Nicht nur gestundet, sondern bis Ende 2020 komplett erlassen werden sollen den Marburger Gewerbetreibenden die Gebühren für die Nutzung von öf­fent­lichen Flächen für Außenbestuhlung und dergleichen. Die Stadt rechnet mit entgangenen Einnahmen von 55.000 Euro.

Ein Notlagenfonds für Soloselbstständige in Höhe von 200.000 Euro soll existentiell bedrohte Menschen in den Bereichen Kunst, Kreative und Bildung unterstützen, die nicht von den umfangreichen Hilfsprogrammen von Bund und Land erreicht werden. Zusätzlich werden die Förderrichtlinien des bereits verabschiedeten Hilfspakets für Künstler und Kulturbetriebe überarbeitet und an die Bedarfe angepasst.

Das Herzstück von “Marburg Miteinander” in den Sommermonaten inklusive Ferienzeit ist der “Sommer in der Stadt” – ein dezentrales und der Corona-Krise angepasstes Kultur- und Veranstaltungsprogramm für alle Marburger, vor allem für Familien, die wegen Corona zu Haus bleiben, und zur Unterstützung von Kulturschaffenden, Kreativwirtschaft, Schau­steller­gewerbe, Handel und Gastro­nomie. Die Mitwirkung von Vereinen, sozialen Trägern und anderen ist aus­drück­lich erwünscht, Sponsoren sollen sich finanziell beteiligen. Haupt­ver­an­stalter sollen die Organisatoren des Stadtfestes sein. Ansatz: 150.000 Euro.

Nach dem Sommer soll der Anschub der Stadt-Geld-Millionen sowie der weiteren kurzfristigen Hilfen für die Marburger Gewerbetreibenden verstärkt und verstetigt werden – unter anderem mit einer Kampagne “Lokal – regional – nachhaltig” zur Förderung des regionalen Konsums und stationären Handels.

Der Baustein “Förderprogramm lokales Handwerk und Bauwirtschaft” im Marburger Hilfspaket bezuschusst die nachhaltige energetische Sanierung und den Erhalt denkmalgeschützter Bauten. Mit zusätzlichen 300.000 Euro will die Stadt zusätzliche Investitionen anschieben und so Arbeitsplatzverlusten in der Baubranche vorbeugen.

pe/kro

“Unmittelbar die Kaufkraft stärken”

OB Spies über das Sofortprogramm gegen die Corona-Folgen

Mit Gutscheinen und einem umfangreichen Maßnahmenpaket soll das Pro­gramm “Marburg Miteinander” die Corona-Folgen in Marburg bekämpfen. Wie sich die Stadt das leisten kann und was die Eckpunkte sind, erläutert Ober­bürgermeister Thomas Spies im Express-Interview.

EXPRESS: Die Stadt will mit einem millionenschweren Programm Marburgs Bürger, die Wirtschaft und die Kulturszene stärken. Was sind die Eckpunkte?

Thomas Spies: Der zentrale Punkt ist, dass das Leben in der Stadt wieder anläuft. Wir haben in den letzten Wochen gemerkt, wie das öffentliche Leben in Marburg zum Erliegen kommt, wenn die Geschäfte und Gastronomiebetriebe geschlossen sind und es keine Kulturveranstaltungen mehr gibt.

Deshalb wollen wir mit rund 76.000 Gutscheinen für alle Marburgerinnen und Marburger, die ihren Erstwohnsitz in der Stadt haben, unmittelbar die Kaufkraft stärken. Die Gutscheine schicken wir allen direkt zu. Unterstützt werden sollen dadurch die Gewerbe, die besonders durch die Corona-Krise belastet wurden: Einzelhandel, Gastronomie, Dienstleistungen, Kulturschaffende und Schau­steller.

Familien stehen bei der “Stadt-Geld”-Gutscheinaktion besonders im Zentrum. Das ist mir sehr wichtig. Eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern be­kommt beispielsweise Gutscheine im Wert von 170 Euro.

Damit das soziale und kulturelle Leben in der Stadt wieder aufblüht, planen wir für die Sommermonate ein großes Programm mit vielen kleinen Ver­an­stalt­ungen an verschiedenen Orten – die unter Corona-Regeln stattfinden können. Eine Kampagne soll den nachhaltigen Konsum, das Einkaufen in der Region, den stationären Handel und Handwerk fördern, nach dem Motto “buy local, produce local”.

Sehr wichtig sind mir im “Marburg Miteinander”-Programm auch die Maß­nahmen für Mieterschutz, sozialen Ausgleich, Bildungsgerechtigkeit und Bürgerbeteiligung, die als kurzfristige Hilfen ebenso wie auf lange Sicht angelegt sind.

EXPRESS: Wie kann sich die Stadt dieses teure Programm leisten? Vor dem Hintergrund des allgemeinen wirtschaftlichen Einbruchs und niedriger Ge­werbesteuereinnahmen?

Thomas Spies: Wir können uns das leisten, weil wir durch solide Haus­halts­politik eine Rücklage und genügend Liquidität und damit ein “Sparbuch” für schlechte Zeiten angelegt haben. Genau dafür – für Einnahmeeinbrüche und/oder besondere Lagen – ist dieses Sparbuch da. Hinzu kommt, dass wir bislang davon ausgehen, dass die großen Gewerbesteuerzahler am Pharma­standort weitgehend unbeschadet durch die Krise gehen werden. Das beruhigt, denn diese Unternehmen erwirtschaften rund 80 bis 90 Prozent der städtischen Gewerbesteuereinnahmen.

EXPRESS: Wie ist das Konzept für das Programm entstanden?

Thomas Spies: In den drei Wochen seit meiner Rückkehr in den Dienst nach der krankheitsbedingten Auszeit konnte ich zahlreiche Gespräche führen: mit vielen direkt Betroffenen, ihren Organisationen und Vertretungen, mit den Fachleuten der Verwaltung, mit Menschen aus der Stadtgesellschaft und insbesondere aus der Kommunalpolitik. Aus diesen Gesprächen, Vorschlägen, Anregungen und Überlegungen resultiert das Programm “Marburg Miteinander”.

Es handelt sich zunächst um eine Finanzvorlage. Das heißt, wir haben die Ziele festgelegt und die Mittel, mit denen wir sie erreichen wollen. Die detaillierte Umsetzung kostet noch Arbeit und Zeit, aber auch kurzfristig schon Geld. Wenn die Stadtverordnetenversammlung das zusätzliche Geld freigibt, können wir loslegen.

EXPRESS: Trotz der Lockerungen sind wir ja noch mitten in der Corona-Krise. Aktuell kann keiner sagen, wie sich die Situation entwickelt. Was bedeutet das für das Programm?

Thomas Spies: Wir fahren auf Sicht, das bedeutet, dass wir einzelne Details im Hilfspaket im Lauf der kommenden Monate sicher noch anpassen müssen. Je nach Entwicklung werden vielleicht weitere Maßnahmen erforderlich sein, um Arbeitsplätze und das örtliche Handwerk zu unterstützen oder für mehr Bil­dungs­ge­rechtigkeit und sozialen Ausgleich zu sorgen. Aber das sehen wir dann, wenn es soweit.

EXPRESS: Wie fordernd war und ist die Corona-Krise für die städtische Verwaltung?

Thomas Spies: Es war und ist für die ganze Verwaltung wie für alle anderen auch eine riesige Herausforderung. Weil wir überall genau hinsehen mussten, was wir in kürzester Zeit umstellen können, um uns und unsere Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger der Situation anzupassen. Die Verwaltung hat mit großem Engagement und Erfolg viele Herausforderungen gemeistert, die Not­kinderbetreuung, die Aufrechterhaltung der Kernprozesse und der kritischen Infrastruktur, des ÖPNV, der Ver- und Entsorgung. Wir mussten fast wöchent­lich neue Verordnungen umsetzen, haben soziale Maßnahmen angepasst und vieles mehr. Wir haben in Kooperation mit weiteren Akteuren in kürzester Zeit neue und wichtige Hilfsangebote für besonders Belastete geschaffen.

Am Ende werden wir von all diesen Anstrengungen auch profitieren – zum Beispiel auch bei der Digitalisierung der Stadtverwaltung, durch die wir jetzt schon viele Dienste online anbieten konnten und die durch die vergangenen Wochen einen weiteren Schub bekommen hat.

Interview: Georg Kronenberg

Bild mit freundlicher Genehmigung von Georg Kronenberg