Es muss ein Superspreader unter den Gästen gewesen: 27 Menschen feierten den runden Geburtstag einer Führungskraft aus dem Unternehmen Seidel. 25 von ihnen sind nun an Corona erkrankt. Angesichts von weiteren Fällen bei dem Hersteller von Designzubehör in der Kosmetikindustrie hat sich die Firma entschlossen, die Werke in Marburg und Fronhausen vorübergehend zu schließen. Die knapp 700 Mitarbeiter sollen nun zum Corona-Test: “Wir wollten verhindern, dass wir eine Massenansteckung bekommen und selbst zu einem Corona-Herd werden”, erklärt Firmenchef Andreas Ritzenhoff. Der promovierte Arzt und Unternehmer hofft aber, dass die Werke am Donnerstag (8. Oktober) wieder öffnen können.
Die private Geburtstagsfeier fand in einem separaten Bereich eines Gießener Restaurants statt. Zu Gast waren Arbeitskollegen, Angehörige und Freunde des Jubilars. Nach den Informationen von Ritzenhoff, der selbst nicht unter den Gästen war, wurden die Hygienevorschriften im Restaurant eingehalten. Die Feiernden saßen an unterschiedlichen Tischen, es wurde regelmäßig gelüftet und – zumindest zur Begrüßung – auf Umarmungen und Händeschütteln verzichtet. Auch der Allein-Unterhalter und der Sänger, die an diesem Abend auftraten, sollen Abstand gehalten haben.
Allerdings berichten Gießener Medien, dass die Gäste um Mitternacht lauthals “Happy Birthday” gesungen und den Jubilar umarmt hätten. Nun sind fast alle Gäste der Geburtstagsfeier infiziert – auch der Restaurantbetreiber, der Alleinunterhalter und der Sänger sollen sich mit Corona angesteckt haben. Angesichts dieses Falles warnt der Erste Kreisbeigeordnete des Landkreises Marburg-Biedenkopf, Marian Zachow: “Dieses Beispiel macht auf eindrucksvolle Weise deutlich, dass Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen derzeit sehr kritisch zu bewerten sind.” Er rät dringend dazu, Feiern zu runden Geburtstagen, Ehejubiläen und anderen Familienfesten zu verschieben.
Von den Gästen stammten 22 aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf und hatten Kontakte zur Firma Seidel, die zu den Weltmarktführern für das Design-Zubehör der Kosmetikindustrie zählt. Auch der mutmaßliche “Superspreader” hatte zuvor noch im Betrieb gearbeitet. Diese Fälle hätte man noch eingrenzen können, berichtet Firmenchef Andreas Ritzenhoff. Allerdings traten zeitgleich weitere Coronafälle bei Mitarbeitern in mehreren technischen Abteilungen in den Werken in Marburg und Fronhausen auf, die nicht im Zusammenhang mit der Feier standen. Als der Pandemiestab des Unternehmens zusammengerufen wurde, mussten sie sich eingestehen: “Aufgrund der multiplen Quellen fehlte uns die Übersicht”, so Ritzenhoff: “Uns war nicht klar, wie hoch der Ansteckungsgrad in der Firma ist.”. Um andere nicht zu gefährden, hätten sie sich entschieden, die Produktion vorübergehend zu stoppen.
Aktuell arbeitet das Unternehmen intensiv mit dem Gesundheitsamt des Landkreises Marburg-Biedenkopf zusammen. Es wird versucht, die knapp 700 Beschäftigten zu testen. Zudem befragen die Vorgesetzten der Abteilungen des Unternehmens ihre Mitarbeiter jeden Tag intensiv nach möglichen Krankheitssymptomen. “Eine gute Anamnese hilft mit”, sagt der Unternehmenschef, der selbst Arzt ist. Die Firma hat auch ein strenges Hygienekonzept. Neben Hygienestationen, Materialien und sehr umfassenden Informationen müssen und mussten alle Beschäftigten während der Arbeit einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Auch die Feiern zum 190-jährigen Bestehen des Unternehmens fielen im Pandemiejahr fast vollständig aus.
Bis zu Redaktionsschluss (6. Oktober) waren keine weiteren Fälle im Unternehmen aufgetaucht. Ritzenhoff geht daher davon aus, dass die Werke am Donnerstag, 8. Oktober, wieder geöffnet werden können. Zur wirtschaftlichen Situation des Unternehmens im Pandemiejahr sagte er: “Wir haben schon Einbrüche, aber bisher sind wir einigermaßen durchgekommen.”
Aus welcher Quelle sich die anderen infizierten Seidel-Mitarbeiter angesteckt haben, wird noch überprüft. Kreisbeigeordneter Marian Zachow nannte das Geschehen “hochkomplex”. Die Diagnostik des Umfelds und die Recherche nach Kontaktpersonen seien sehr aufwändig. Ritzenhoff ergänzt: “Viele Mitarbeiter haben Kinder, die zur Schule oder zur Universität gehen.”
Tatsächlich sind in der Folge des Corona-Ausbruchs auch Kinder und Jugendliche aus mindestens zwei Schulen betroffen. Zwar gehen die Betroffenen wegen der Herbstferien zurzeit nicht in die Schule. Da die Infektion aber auch vor den Ferien stattgefunden haben könnte, hat das Gesundheitsamt eine zweiwöchige Quarantäne für die engen Kontaktpersonen verhängt.
Gießener Kreisverwaltung entsetzt über Verhalten auf Geburtstagsfeier
“Der Verwaltungsstab des Landkreises Gießen ist entsetzt über das Verhalten der Geburtstagsgesellschaft”, teilte die Kreisverwaltung am Dienstagnachmittag mit. Das Hygienekonzept des Gastronomiebetreibers sei vom Gesundheitsamt für gut befunden worden, das Verhalten der Gäste in Sachen Hygienevorschriften stoße allerdings auf Unverständnis des Landkreises: “Durch die Befragung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Rahmen der Kontaktermittlungen durch das Gesundheitsamt lässt sich ein gutes Bild über den Hergang der Feier zeichnen. Geburtstagslieder, Umarmungen und sogar Küsschen – alles eigentlich Normalität bei einer fröhlichen Feier. Dass dies nicht für diese Zeiten gilt, zeigen die Auswirkungen. Nahezu der gesamte Teilnehmerkreis der Feier ist an Corona erkrankt.” Der Verwaltungsstab des Landkreises Gießen rät, sich genau zu überlegen, ob und in welchem Rahmen besonders in der kalten Jahreshälfte eine Feier stattfinden soll. “Wir können immer wieder nur an die Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger appellieren. Halten Sie in jedem Fall die AHA-Regeln ein: Abstand, Hygiene, Alltagsmasken”, so Udo Liebich, der Büroleiter von Landrätin Schneider. Der Abstand gilt im Übrigen auch während Gratulationen. Wer auf Geburtstagslieder nicht gänzlich verzichten möchten, für den hat das Gesundheitsamt des Landkreises den Tipp, dies entweder draußen mit viel Abstand zu tun oder es mal mit Summen zu versuchen. Ungewöhnliche Zeiten erforderten schließlich ungewöhnliche Maßnahmen. pe/kro
Gesa Coordes