Gegner des Mobilitätskonzept Move 35 werfen der Stadtführung vor, die Bevölkerung nicht genug miteinzubeziehen. Experte Tobias Escher widerspricht: Er stellt der Stadt ein gutes Zeugnis bei der Bürgerbeteilung aus. Ihm zufolge ist der “Konflikt um Move 35 nur politisch zu lösen“.

Ein zentraler Kritikpunkt der Gegner des Marburger Mobilitätskonzepts Move 35 ist die Bürgerbeteiligung. „Der Oberbürgermeister und Stadtrat Kopatz meiden die Bürgerbeteiligung wie der Teufel das Weihwasser“, sagt etwa der CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Seipp. Im von der konservativen Opposition im Stadtparlament angestrengten Bürgerbegehren wird daher nicht nur die vollständig neue Bearbeitung der Maßnahmen durch ein Planungsbüro gefordert, sondern auch eine „breite Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger“ – mit Bürgerversammlungen, die alle zwei Monate in allen Stadtbezirken Marburgs während des erneuten Erarbeitungsprozesses stattfinden.

Dagegen ist Soziologieprofessor Tobias Escher (Uni Düsseldorf) davon überzeugt, dass sich der Streit so nicht lösen lässt: „Der Konflikt wäre nicht durch eine andere Art der Bürgerbeteiligung verhindert worden“, sagt der unabhängige Experte: „Das ist ein gesellschaftlicher Konflikt.“ Escher hat sich viel mit Verkehrswende und Bürgerbeteiligung beschäftigt. Derzeit leitet er ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Projekt, bei dem die Wirkung von Beteiligungsprozessen auf die Qualität von politischen Entscheidungen zum Thema nachhaltige Mobilität untersucht wird. Unter die Lupe genommen wird dabei – neben Verkehrswende-Projekten in Hamburg-Altona, Hamburg-Ottensen, Offenburg und Wuppertal – auch die Bürgerbeteiligung zu Move 35 in Marburg.

Sein Urteil über den seit mehr als zwei Jahren andauernde Bürgerbeteiligung in der Universitätsstadt ist eindeutig: „Die Stadt hat sehr viel, sehr früh, sehr umfassend und sehr vielfältig beteiligt.“ Sie habe auch darauf geachtet, dass nicht nur Menschen mit höherem Einkommen, höherer Bildung und die üblichen Engagierten dabei sind. So wurden 700 zufällig ausgewählte Bürger zu den Workshops eingeladen. „Das heißt nicht, dass der Prozess vollkommen fehlerfrei war oder dass es keine Kritikpunkte im Detail gibt“, sagt Escher. Marburg gehöre jedoch zu den Kommunen mit einer aufwändigen Bürgerbeteiligung, die sich viel Mühe gegeben hätten.

Der Forscher sieht das Problem an einer anderen Stelle: „Bürgerbeteiligung finden immer alle gut.“ Wenn mehr Bürgerbeteiligung gefordert werde, steht dahinter aber oft nur die Hoffnung, doch noch die eigene Meinung durchsetzen zu können. Dass es dabei wirklich eine einvernehmliche Lösung geben könne, hält er für unwahrscheinlich. Zudem gebe es ja auch Beteiligte, denen Move 35 nicht weit genug gehe: „Das ist ein Straßenverteilungskonflikt“, der durch die Topographie Marburgs noch verschärft werde, erklärt der Forscher. Deshalb löse doppelt so viel Bürgerbeteiligung den Konflikt nicht.
Und warum haben so viele Menschen das Gefühl, vorher nicht am Zustandekommen von Move 35 beteiligt worden zu sein? Soziologieprofessor Tobias Escher nennt es das „Beteiligungsparadox“: Am Anfang gibt es ganz viele Möglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger, sich zu beteiligen, aber es kommen nur wenige. Und erst, wenn die Entscheidung gefallen ist, wollen alle mitreden: „Wenn es eigentlich zu spät ist, wachen die Menschen auf.“

Zudem sei die Verkehrswende natürlich „ein Stück weit eine Zumutung“. Es gebe viel Zustimmung, wenn es allgemein um nachhaltige Mobilität gehe. Es sei klar, dass mehr Wege zu Fuß, mit dem Rad und mit Bussen und Bahnen erledigt werden müssten. „Aber in dem Moment, wo es konkret wird, wo es um die Parkplätze vor der Haustür, Höchstgeschwindigkeiten oder die höheren Parkgebühren geht, gibt es vielerorts Widerstand. Das ist der Grundkonflikt“, sagt Escher. Jetzt könne man durchaus noch einmal informieren und zum Beispiel versuchen, die Bedenken der Einzelhändler zu zerstreuen.

Aber grundsätzlich wolle die Stadt Marburg bis 2030 klimaneutral werden. Mit diesem Versprechen sei der Oberbürgermeister gemeinsam mit Grünen und der Klimaliste angetreten. Daher sei die grundsätzliche Frage, ob man mehr oder weniger Verkehrswende wolle, nach der Bürgerbeteiligung nur politisch zu lösen.
Nun sei der politische Beschluss zu Move 35 von der Stadtverordnetenversammlung am 21. Juli im Prinzip gefallen: „Das ist eine demokratische Entscheidung“, so Escher: „Aber mit dieser Entscheidung sind viele nicht zufrieden.“ Immerhin, so seine Erfahrung: Wenn Straßen tatsächlich umgebaut oder gesperrt würden, beruhige sich die Stimmung oft wieder: „Wenn es so weit ist, sehen die Menschen, dass es eigentlich nicht so schlimm ist.“

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes