Am Oberen Rotenberg in der Marbach weht beständig ein wenig Wind. Durch die rot-grünen Kleeblüten bahnt sich ein Trampelpfad. Die fünf Hektar große Wiese ist Treffpunkt für viele Anwohner. Sie gehen hier spazieren, lassen dem Hund freien Lauf und plaudern – beispielsweise über die geplante Bebauung der Wiese. Über die sind hier viele Menschen ungehalten. Seit Anfang des Jahres regt sich Widerstand gegen die Pläne der Stadt, hier bis zu 200 Wohnungen zu errichten. Nicht ob steht zur Debatte – lediglich darüber, wo in Marburg zuerst die Bagger rollen, dürfen die Bürger entscheiden. Auch am Hasenkopf im Stadtwald soll gebaut werden.
Grund genug für Nadia Otero, sich zu wehren. Gemeinsam mit Ellen Hissung hat die Ärztin die Bürgerinitiative “Marbacher Nachbarschaft”, kurz MarNa, gegründet. Die beiden fürchten um Natur und Klima. Beides sei übersehen worden, sagt die 53-Jährige. Wenn der Sommer nicht so heiß sei wie dieses Jahr, tummelten sich im Wiesengrund zahlreiche Erdkröten und Molche. Auch für Vögel sei die Wiese ein Territorium; beim Spaziergang mit dem Oberbürgermeister kreiste ein Milan über ihren Köpfen. Vor allem aber die Frischluft ist immer wieder Thema für die Bürgerinitiative. Die Wiese lässt die Luft ungehindert weiter Richtung Kernstadt fließen und sorgt so für Abkühlung.
Zu den beiden Frauen von der Bürgerinitiative hat sich Peter Hauswaldt gesellt. Sein Einfamilienhaus hat der Physiker direkt neben der Wiese gebaut, und sein Dach passend mit Grassoden gedeckt. Auch Carsten Keil und Klaus Dieckhoff engagieren sich, wollen ihren Wohnort mitgestalten. “Wir sind nicht die Verhinderer von bezahlbarem Wohnungsbau”, sagt Peter Hauswald. Vielmehr möchten sie aktiv an der Diskussion um den Oberen Rotenberg teilnehmen. Nicht nur, weil sein eigener Blick aus dem Fenster dann von Beton versperrt sein könnte, wünscht sich Hauswaldt Änderungen im Bauplan: “Die Leute brauchen Natur, wenn sie aus dem Fenster sehen”. Wenn aber bis zu 800 neue Einwohner in die Marbach zögen, hält er das für unwahrscheinlich.
Bisher seien die Anwohner wenig einbezogen worden, sagt er. Sie fühlten sich nicht ernst genommen. “Der Prozess Bürgerbeteiligung ist schief”, so Klaus Dieckhoff. Studien zu Klima, Naturschutz und Verkehrsaufkommen fehlen bislang. Nur zu letzterem gibt es Daten von 2007, die unterschiedlich beurteilt werden.
Neue Gutachten gibt das Stadtparlament erst Anfang 2019 in Auftrag, nachdem es entschieden hat, wo zuerst gebaut werden soll. Der MarNa und den anderen Anwohnern ist das zu spät: Sie befürchten, dass dann die Entscheidung schon zugunsten der Bebauung gefallen ist und die Gutachten nur noch bestätigen, was feststeht. “Hier werden Sachzwänge erzeugt, legitimieren will man später”, befürchtet Carsten Keil.
Vom Vorschlag des Oberbürgermeisters, in der Marbach eine autofreie Zone einzurichten, hält er nichts: “Damit nagelt man Menschen auf einer Lage fest, die höher als der Schlossberg ist.” Für sich selbst und für künftige Anwohner fordert Klaus Dieckhoff deshalb einen Planungsstopp und eine “Diskussion über die Entwicklung von Marburg und der Quartiere”. Und er betont: “Wir wollen daran beteiligt werden.”
Lars Bieker
Stadtwald will mitdiskutieren
Auch im Stadtwald – dem zweiten Quartier, in dem ein neues Baugebiet geplant ist – diskutieren die Bürger über zukünftige Baugebiete. Hier hat sich zwar keine Bürgerinitiative gegen das geplante Wohngebiet am Hasenkopf gegründet, die Menschen haben sich jedoch lose im Arbeitskreis Stadtwald zusammengeschlossen, wo sie sich einmal im Monat treffen. Bis dahin habe es viele Statements aus der Marbach gegeben, während der Stadtwald “ein bisschen sprachlos war”, erläutert Renate Bastian. Es gehe ihnen vor allem darum, dass eine Bebauung gemeinsam mit der Bevölkerung im Stadtwald und in Ockershausen geplant wird, so Bastian: “Wir können uns eine Bebauung vorstellen, aber es müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein.”Grundsätzlich stellen sich im Stadtwald beziehungsweise am Hasenkopf ähnliche Probleme wie in der Marbach: Wird die Frischluftschneise in die Kernstadt weiter funktionieren? Schaffen die Straßen in die City den zusätzlichen Verkehr? Und was ist mit Natur- und Landschaftsschutz? Schließlich gebe es in diesem Areal einen Vogelrastplatz, berichtet Bastian. Diskutieren will die Gruppe auch über die Art der Bebauung. Dass sozialer Wohnungsbau integriert werden soll, sei selbstverständlich – Mietskasernen wollen sie jedoch nicht.
– Gesa Coordes
Bezahlbarer Wohnraum fehlt
Warum plant die Stadt neue Wohngebiete?
Bis 2020 fehlen nach Angaben der Stadt voraussichtlich noch rund 350 Wohnungen für Menschen mit niedrigem Einkommen. Oberbürgermeister Thomas Spies sagt daher: “Marburg braucht mehr bezahlbaren Wohnraum.” Zudem schätzt das Regierungspräsidium, dass bis 2030 rund 3000 Menschen mehr im Stadtgebiet leben wollen. In den neuen Wohngebieten soll der soziale Wohnungsbau 20 bis 30 Prozent einnehmen.
Was steht zur Diskussion?
Es gibt zwei mögliche Flächen für neue Wohngebiete: eine rund fünf Hektar große Wiese am Oberen Rotenberg (Marbach) und ein rund zehn Hektar großer Acker am Hasenkopf (Stadtwald). Beide sind bislang unbebaut und landwirtschaftlich genutzt. Sie liegen in etwa 140 Meter Höhe auf dem Berg im Südwesten beziehungsweise im Nordwesten Marburgs. Beide Areale sind seit vielen Jahren als “Vorranggebiete Siedlung” für den Wohnungsbau ausgewiesen. Zurzeit werden sie vergleichend geprüft.
Worin unterscheiden sich Standorte?
Oberer Rotenberg (Marbach): Das zukünftige Wohngebiet ist gut drei Kilometer vom Rudolphsplatz entfernt. Es grenzt an den wohlhabenden Stadtteil Marbach, in dem bislang 3300 Menschen leben. Das untersuchte Gebiet hat ein Potenzial von 200 Wohnungen. Da die Siedlung direkt an Ein-, Zwei-, Reihen- und Mehrfamilienhäuser am Höhenweg angrenzt, müsste nach Mitteilung der Stadt auf den gewachsenen Bestand Rücksicht genommen werden. Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr wäre unkompliziert. Wenn mehr Autos vom oberen Rotenberg in die City fahren, würde es allerdings an der Haarnadelkurve am Barfüßertor noch enger. Baubeginn könnte frühestens in fünf bis sechs Jahren sein.
Hasenkopf (Stadtwald): Der Stadtwald ist auf dem Gelände der ehemaligen Tannenbergkaserne in den 90er Jahren entstanden. In dem jungen Stadtteil leben 1430 Menschen – unter ihnen auch viele Sozialhilfeempfänger. Die Entfernung zum Rudolphsplatz ist gut einen Kilometer weiter als am oberen Rotenberg. Auf dem geplanten Siedlungsgebiet könnten 350 Wohnungen für rund 900 Menschen entstehen. Damit wäre der Stadtteil doppelt so groß. Weil die Eigentümerverhältnisse mit mehr als 40 verschiedenen Besitzern viel komplizierter sind, könnte allerdings erst später gebaut werden. Frühester Baubeginn wäre in sieben Jahren.
Wie sieht es mit der Bürgerbeteiligung aus?
Die Bürgerbeteiligung begann am 26. April diesen Jahres mit einem Runden Tisch “Preiswerter Wohnraum” zum Thema “Wohnen im Westen”. Mit dabei waren Oberbürgermeister, Bürgermeister, Verwaltung und interessierte Bürger. Es folgten sechs Veranstaltungen mit Informationen und Diskussionen sowie externer Moderation. Dazu gehörten der offizielle Auftakt in der Stadthalle, zwei Stadtteilspaziergänge, zwei Präsentationen der Ergebnisse und ein weiterer Runder Tisch.
Wie geht es weiter?
Die Entscheidung über die zukünftigen Wohngebiete im Marburger Westen fällt in der Stadtverordnetensitzung am 23. November. Dabei sollen die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung einfließen. Für das ausgewählte Gebiet soll dann ein Gutachten in Auftrag gegeben werden, das die Auswirkungen auf Infrastruktur, Verkehr, Klima, Natur, Umwelt und weitere Aspekte untersucht. Da solche Gutachten teuer sind, werden sie nicht für beide Stadtteile erstellt.
Welcher Standort ist wahrscheinlicher?
Die Stadtverwaltung betont, dass offen geprüft werde. “Aus fachlicher Sicht eignen sich beide Gebiete”, sagt Oberbürgermeister Spies. Die Tendenz scheint aber zum Hasenkopf am Stadtwald zu gehen – wo weniger Bürger protestieren.
– Gesa Coordes