Marburg bleibt in der Autofrage gespalten
Ruhe und Frieden schafft die Entscheidung wohl nicht: Die Marburger haben sich beim Bürgerentscheid am Sonntag mit knapper Mehrheit gegen die Halbierung des Autoverkehrs in der Universitätsstadt entschieden. Mit 51,8 Prozent der Stimmen lehnen sie das Ziel ab. Und das, obgleich es in Marburg eigentlich eine klare rot-grüne Mehrheit gibt. Die Wahlbeteiligung lag bei 70,3 Prozent.
„Das ist ein knappes Ergebnis, aber es ist eine Mehrheit“, sagt der Marburger CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Seipp. „Das ist gelebte Demokratie“, kommentiert Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD), der den Bürgerentscheid initiiert hatte: „Ambitionierte Entwicklungen brauchen eine breite Basis.“ Er betonte aber auch, dass sich der Bürgerentscheid nur mit einem der Ziele des Mobilitätskonzepts Move 35 befasst habe – der Halbierung der zurückgelegten Wege mit dem Auto. „Move 35 als Gesamtkonzept ist nicht vom Tisch“, sagt er. Schließlich habe die Stadtverordnetenversammlung – auch die Opposition aus CDU, FDP und „Bürgern für Marburg“ – noch im Februar 2024 erklärt, dass sie die überwiegende Zahl der in Move 35 vorgeschlagenen Maßnahmen für sinnvoll hält. Dies bedeute, dass die Stadtverordnetenversammlung nun entscheiden müsse, wie stark der Anteil der Autos im Verkehr stattdessen sinken solle.
Damit kündigt sich bereits der nächste Streit an: „Das ist eine schallende Ohrfeige für die Demokratie und den Willen der Bürger“, kritisiert Andrea Suntheim-Pichler von den „Bürgern für Marburg“: „Wir fordern den Oberbürgermeister auf, das gescheiterte Projekt Move 35 in seiner jetzigen Form zu stoppen.“ Das sieht CDU-Mann Seipp ähnlich: „Dass der Oberbürgermeister damit um die Ecke kommt, akzeptieren wir nicht“, sagt er: „Die Menschen haben der einseitigen Verkehrspolitik von Thomas Spies eine Absage erteilt. Es ist nun endlich amtlich, dass die realitätsfernen Pläne der Klimakoalition mehrheitlich abgelehnt werden.“
Mit dem Entscheid – so Seipp – seien zugleich im Mobilitätskonzept geplante Maßnahmen wie Parkplatzabbau, die Sperrung eines kleinen Teilbereichs der Straße am Grün sowie neue Einbahnstraßenregelungen in der City abgewählt worden. Selbst die versuchsweise Sperrung der Leopold-Lucas-Straße zu Schulbeginn und zu Schulende, um vor allem Elterntaxis zu begrenzen, hält er für abgelehnt.
Die Fraktion aus CDU, FDP und „Bürgern für Marburg“ will nun stattdessen ein neues Planungsbüro beauftragen, um „die Teile von Move 35 herauszunehmen, die für alle umsetzbar sind“, sagt Seipp. Dazu zählen sie den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie den Bau von Rad- und Fußwegen. Im kritischen Bereich des Autoverkehrs müsse man „einen Mittelweg finden, mit dem alle leben können“, so Seipp. Es brauche ein neues, ganzheitliches Verkehrskonzept.
Unterdessen äußern sich die Grünen enttäuscht: „Trotz der Unterstützung durch viele zivilgesellschaftliche Initiativen ist es uns leider nicht gelungen, die Mehrheit der Wahlberechtigten in der Stadt zu überzeugen“, bedauert Grünensprecher Friedhelm Nonne. Das Ergebnis zeige aber auch, „dass die Stadtgesellschaft gespalten ist“. Allerdings geht die umstrittene Fragestellung des Bürgerentscheids auf einen Vorschlag der Grünen und eine ähnliche Idee der CDU zurück. Sie lautete: „Sind Sie dafür, dass das im Rahmen von Move 35 beschlossene Ziel einer Halbierung des Pkw-Verkehrs zugunsten anderer Verkehrsmittelnutzungen weiterhin verfolgt wird?“ Weil damit die positiven Aspekte des Plans nicht vorkamen, hatten die Marburger „Psychologists for Future“ das Mobilitätskonzept Move 35 bereits Anfang des Jahres symbolisch zu Grabe getragen.
Nach Überzeugung von Stefan Schulte von der Kampagnengruppe „Ja für eine lebenswerte Stadt“ ist der Bürgerentscheid das „Ergebnis einer falschen Fragestellung und einer massiven Kampagne.“ Dass die Abstimmung eine Befriedung und Klärung des Konflikts gebracht hat, glaubt Schulte nicht: „Die Diskussion wird weitergehen.“ Vor allem in den Außenstadtteilen sei die Angst geschürt worden, dass die Menschen nicht mehr in Stadt fahren könnten und dass es massive Verschlechterungen für sie gebe.
Tatsächlich geht das Nein zur Verkehrswende vor allem auf die Stadtteile zurück, die mit deutlicher Mehrheit gegen die Halbierung des Autoverkehrs stimmten. Deshalb möchte etwa die Marburger Greenpeace-Gruppe weiter für sichere Rad- und Schulwege, eine grünere Stadt, bessere Luft und Busse im 30-Minuten-Takt in alle Außenstadtteile kämpfen: „Wir sind weiterhin überzeugt davon, dass auch Nein-stimmende Personen von diesen Maßnahmen profitieren würden und wünschen uns, mit allen ins Gespräch zu kommen.“
Unterdessen sieht Henning Köster (Linke), Mitbegründer der Bürgerinitiative Verkehrswende, den Entscheid positiv: „Ich hätte nie damit gerechnet, dass nach den gravierenden handwerklichen Kommunikationsfehlern, der dann monatelang mit erheblichem Aufwand geführten Kampagne der OP, dem Schüren von unbegründeten Ängsten bei älteren Menschen und solchen, die auf ihr Auto angewiesen sind, und der geldschweren Öffentlichkeitsarbeit von CDU, FDP und Wirtschaft fast 20.000 MitbürgerInnen uns ihr Ja geben.“ Er sei auch gespannt, wie Jens Seipp seine Einlassung, er bejahe 80 Prozent der Move-35-Maßnahmen jetzt in Politik umsetze.
Oberbürgermeister Thomas Spies will noch vor den Sommerferien alle Fraktionen zu einem Gespräch einladen, um den zukünftigen Weg zu klären.
gec