Soziale Gerechtigkeit ist das Kernthema der linken OB-Kandidatin


Sie ist ein Urgestein der Marburger Linken: Ihre Familie wurde einst von den antikommunistischen Berufsverboten hart getroffen. Aber auch Notstandsgesetze, Studentenbewegung, SDS, Abendroth, Frankfurter Schule und Startbahn West haben Spuren in ihrem Leben hinterlassen. Mit 76 will sie es nun noch einmal wissen. Am 14. März tritt Renate Bastian bei der Oberbürgermeisterwahl für die Marburger Linken an.

Zwei Erfahrungen haben sie zur demokratischen Sozialistin gemacht: Die Studentenbewegung und die arme Bauersfamilie, die sie als Kind gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren drei Schwestern als Vertriebene aufnahm: „Das waren sehr solidarisch denkende, herzliche Menschen, für die es aber keinen Ausweg aus der Armut gab“, erinnert sie sich. Heute sagt sie: „Man darf soziale Ungleichheit nicht hinnehmen.“ 

Sie studierte Politik und osteuropäischen Geschichte zunächst in Frankfurt, dann in Marburg. Die Studentenbewegung prägte sie. Sie lernte Adorno, Habermas und Wolfgang Abendroth kennen, den legendären Marburger „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“. Und sie verliebte sich in ihren inzwischen verstorbenen Mann Herbert Bastian, ein Postschaffner, der in die Mühlen der großen Politik geriet. Weil er für die DKP im Marburger Stadtparlament saß, verlor der Beamte nach fünf Jahren nervenaufreibender Vorermittlungen 1984 seinen Job und seine Pensionsansprüche. Erst 1990 wurde er von Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt. Doch der jahrelange Kampf hatte seine Gesundheit zerrüttet. Er starb im Alter von 56 Jahren. 

Renate Bastian erinnert sich aber gut an die große Solidarität in Marburg. Die vierköpfige Familie wurde in den Jahren des Berufsverbots nicht nur von einem linken Unterstützerfonds, sondern auch von Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten unterstützt. Das Berufsverbot traf indirekt auch sie selbst. In Marburg hatte Renate Bastian keine Chance, einen Job zu finden. Sie arbeitete in Frankfurt, zunächst bei einer kleinen wirtschafts- und sozialpolitischen Zeitung, dann rund 30 Jahre bei der Gewerkschaft, zuletzt in der Pressestelle von Verdi. 

Für die DKP, die in Marburg eine Hochburg hatte, saß sie ab 1977 in der Stadtverordnetenversammlung. Aber nach der Wende trat sie aus der Partei aus: „Da kamen viele Fakten ans Licht, die man vorher nicht glauben wollte“, sagt sie im Rückblick. Die sozialistische Grundposition habe sie nicht verlassen, aber „Sozialismus muss immer mit Demokratie verbunden sein“. In der PDS – heute in der „Marburger Linken“ – fand sie eine neue Heimat und die Bereitschaft, die Vergangenheit „schonungslos aufzuarbeiten“. 

Ihr Rentnerinnendasein hatte sie sich eigentlich als „Schöngeist“ vorgestellt. Klassische Konzerte wollte die zweifache Großmutter besuchen. Doch dann wurde sie gefragt, ob sie sich erneut im Stadtparlament einbringen wolle. Seit 2016 ist sie wieder dabei: „Es hat mich sehr gereizt, unbefangener Vorschläge einzubringen“, sagt sie. Im Vergleich zu früheren Jahren werden die Linken nicht mehr so hart geschnitten, erzählt Bastian. Allerdings sei es immer noch so, dass ihre Ideen oft „auf Schleichwegen in die anderen Parteien hineinlaufen“. 

Dass die linke Forderung nach Gratisbussen nach so vielen Jahren nun in abgeschwächter Form eine Mehrheit im Parlament gefunden hat – sogar die CDU stimmte zu – macht sie „ein bisschen stolz“. Auch die Sozialquote bei größeren Projekten im privaten Wohnungsbau und die Verblendung des Jägerdenkmals trage ihre Handschrift. 

Herzstück ihrer Arbeit ist die Sozialpolitik. Das Corona-Hilfspaket des vergangenen Sommers sei zwar in Ordnung gewesen, aber nun brauche es ein Corona-Paket für sozial Schwache: „Jedes fünfte Kind in Marburg lebt in Armut“, sagt Bastian: „Diese Kinder trifft die Krise besonders hart.“ Seit Jahren fordern die Linken auch eine Erhöhung der Gewerbesteuer für Großbetriebe wie die Marburger Pharmaunternehmen und die Deutsche Vermögensberatung. Man müsse den Gewerbesteuerhebesatz von 400 auf 440 Prozentpunkte erhöhen. Das entspreche dem Durchschnitt vergleichbarer Städte. 

Den Klimaaktionsplan der Stadt tragen die Linken mit. Sie legen allerdings Wert darauf, dass regelmäßig Rechenschaft darüber abgelegt wird, inwieweit der Plan vorankommt: „Klimapolitik muss eine Maxime für Kommunalpolitik sein“, sagt die 76-Jährige. Sie erinnert aber auch daran, dass die kleinen Leute gar nicht genug Geld haben, um einen großen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen. Die Linken streben eine autofreie Marburger Innenstadt an, den Ausbau von Radwegen und natürlich des öffentlichen Nahverkehrs. „Auch die Fußgänger muss man mehr in den Blick nehmen“, sagt Renate Bastian, die selbst oft zu Fuß geht. 

Die „rote Renate“, wie sie auch genannt wird, wohnt seit mehr als 50 Jahren im einst roten Arbeiterdorf Ockershausen. Nebenan lebt ihr Sohn mit seiner Familie. Ihre Kinder sind unorganisierte Linke, erzählt Bastian: „Manchmal bin ich ihnen vielleicht ein bisschen zu radikal.“

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Renate Bastian