Linke und Klimaliste hoffen auf Klärung der „Beziehungskiste“  

Das Wählervotum ist eindeutig: Knapp 70 Prozent der Marburger haben bei der Kommunalwahl für eine rote oder grüne Partei gestimmt. Dass es damit auch zu irgendeiner Art von grün-rotem Bündnis kommt, ist aber dennoch keineswegs sicher. Dabei liegen die größten Hürden nicht etwa bei der politisch unerfahrenen Klimaliste oder den Linken, die als dritte Partner gebraucht werden. Es ist die über Jahre vergiftete Atmosphäre zwischen SPD und Grünen, die eine neue rot-grüne Koalition schwer macht. 

Sozialdemokraten und Grüne haben eine lange gemeinsame Geschichte in Marburg. „Das ist eine schöne Geschichte mit vielen gemeinsamen Erfolgen“, sagt die über Parteigrenzen hinweg geschätzte zukünftige grüne Stadtverordnetenvorsteherin Elke Neuwohner. Sie erinnert an die Renaturierung der Lahnparkplätze oder die Luisa-Häuser-Brücke. 1997 schmiedeten die Partner das erste rot-grüne Bündnis in Hessen. Es hielt 19 Jahre lang und zerbrach 2016, als SPD und Grüne keine gemeinsame Mehrheit mehr hatten. 

Nachdem es anfangs sehr gut lief, wäre das Bündnis schon 2009 fast geplatzt, weil sich viele SPD-Genossen von den Grünen dominiert fühlten. Damals verglich der frühere Oberbürgermeister Egon Vaupel (SPD) die Koalition mit einer langjährigen Ehe mit schwelenden Konflikten. „Wenn man sich gut kennt, kann man sich besonders gut streiten“, sagt Neuwohner. Später stritten sie um die geplante Seilbahn und die Windkraft, aber auch um viele weniger bedeutsame  Themen: „Wir hatten viele Reibungsverluste um Kleinigkeiten“, sagt der langjährige SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Simon: „Wenn Parteien so lange miteinander arbeiten, gibt es am Ende Abnutzungserscheinungen.“ Die Missstimmungen hingen nach seiner Überzeugung aber weniger an den Inhalten als an Persönlichkeiten. 

Trotzdem wollten Sozialdemokraten und Grüne eigentlich gemeinsam weiterregieren, als SPD-Oberbürgermeister Thomas Spies 2015 die Nachfolge von Egon Vaupel antrat. In der Stichwahl hatten die Grünen noch für Spies geworben und gemeinsam mit der SPD gefeiert. Doch nach der Kommunalwahl 2016 kam alles anders. Sowohl Grüne als auch SPD verloren je vier Sitze und damit ihre Mehrheit. Sie mussten sich nach einem weiteren Partner umsehen. Mit den Linken klappte es nicht, weil die SPD angesichts einer schwierigen Finanzlage einen Sparkurs für nötig hielt. Und die „Bürger für Marburg“ wollten nach eigenen Angaben nach den ersten Gesprächen keine Zusammenarbeit mit der Umweltpartei – nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen „ungehörigen Verhaltens“ einiger führender Köpfe. Aus Sicht der SPD war die Koalition mit den Grünen damit nicht mehr möglich, obwohl OB Spies sich selbst immer als „Rot-Grünen“ bezeichnete. Schließlich gingen die Sozialdemokraten eine Zusammenarbeit mit der CDU und den „Bürgern für Marburg“ ein, die erstaunlich geräuschlos funktionierte. 

Der grüne Fraktionsvorsitzende Dietmar Göttling nennt diese Abkehr einen „Vertrauensbruch“: „Das hat uns ziemlich aufgeregt und enttäuscht“, sagt er. Die Grünen gehen auch davon aus, dass die Finanzen nur vorgeschoben wurden, um sich von ihnen abzuwenden: „Das war ein Manöver, um die Grünen rauszuwerfen“, so Göttling. Tatsächlich gibt es auch Sozialdemokraten, die sagen, dass die rot-grüne Partnerschaft „einfach am Ende“ gewesen sei. 

Allerdings war der grüne Bürgermeister Franz Kahle noch bis 2017 unter SPD-Oberbürgermeister Thomas Spies im Amt. Und von beiden Seiten wird kolportiert, dass sie sich die Zusammenarbeit nicht so schlimm vorgestellt hatten. Es kam vor, dass sie in Sitzungen laut und verletzend wurden. Es gipfelte darin, dass OB Spies seinem grünen Kollegen das Wort entzog. „Beide sind Machtpolitiker“, seufzt ein Stadtverordneter. „Die Persönlichkeit spielt in der Politik oft eine größere Rolle als man zunächst vermutet“, sagt die Linke Renate Bastian. 

In der Folge machten die Grünen in den vergangenen fünf Jahren so knallharte Opposition, dass sie noch nicht einmal den mit den „Fridays for future“ abgestimmten Klimaaktionsplan aus dem Rathaus billigten. „Von den Inhalten her sind wir eigentlich nah beieinander“, sagt SPD-Fraktionsvorsitzender Steffen Rink. Trotzdem hätten die Grünen den Oberbürgermeister fünf Jahre lang permanent angegriffen. 

Das habe sich im Kommunalwahlkampf fortgesetzt: „Das war ein Anti-Spies- und Anti-SPD-Wahlkampf“, sagt Rink. Berichtet wird von unschönen Äußerungen in den sozialen Medien und fiesen Flugblättern auf dem Richtsberg. Indes: Dietmar Göttling von den Grünen sagt über SPD-Posts in sozialen Medien ähnliches. 

Immerhin verkniff sich Amtsinhaber Thomas Spies im Wahlkampf jeden Angriff auf seine grüne Kontrahentin Nadine Bernshausen und fand freundliche Worte bei der Frage nach ihren Stärken. Unterdessen näherten sich die Grünen während des Wahlkampfs der CDU an und versuchten, das bürgerliche Lager einzufangen. Vor der Oberbürgermeister-Stichwahl warben Christdemokraten wie Ex-Landrat Robert Fischbach, Ex-Oberbürgermeister Dietrich Möller sowie die ehemalige Frankfurter Oberbürgermeisterin und Merz-Unterstützerin Petra Roth für Nadine Bernshausen. Sie unterlag Amtsinhaber Thomas Spies (SPD) nur ganz knapp. 

Und jetzt? „Wir könnten mit einer ganz breiten Mehrheit in Marburg Dinge bewegen, die anderswo nicht möglich sind“, sagt die linke Spitzenkandidatin Renate Bastian: „Das ist ein fast schon ein paradiesischer Ausgangspunkt.“ Sie hofft, dass die früheren Partner „ihre Beziehungskiste klären“ und ihr Temperament zurückstellen. Auch die neu ins Parlament gewählte Klimaliste macht sich Sorgen, „weil Grüne und SPD so im Knatsch liegen“, berichtet Mariele Diehl: „Es wäre super-schade, wenn es deshalb auf ein bürgerliches Bündnis hinauslaufen würde.“ Schließlich gehe es doch vor allem darum, dass der Klimaaktionsplan wirklich umgesetzt werde. 

Aktuell laufen die Sondierungsgespräche, zu denen die Grünen als stärkste Fraktion einladen. Gesprochen wird mit SPD, CDU, Linken, Klimaliste, FDP und Bürgern für Marburg. „Die Atmosphäre ist in allen Gesprächen wirklich gut“, berichtet Elke Neuwohner. Und auch Thorsten Büchner von der SPD fand die erste Sondierungsrunde „eigentlich überhaupt nicht schwierig“. 

Bei Dietmar Göttling, der seit 24 Jahren als grüner Fraktionsvorsitzender amtiert, klingt die Frage nach der Zusammenarbeit skeptischer: „Ich weiß nicht, ob man es hinbekommen kann, aber man braucht Vertrauen“, sagt er. „Man könnte über die Sachfragen zusammenkommen“, sagt Steffen Rink (SPD). Dennoch brauche es einen wertschätzenden Umgang miteinander. 

Günstig ist wahrscheinlich, dass es viele neue Gesichter in den Verhandlungsgruppen von Grünen und SPD gibt. Verhandlungsführer der Sozialdemokraten ist der blinde Thorsten Büchner, der auch außerhalb der SPD als klug und humorvoll geschätzt wird: „Es geht doch darum, gemeinsam etwas zu erreichen“, sagt der 41-Jährige: „Persönliche Probleme dürfen die politische Arbeit nicht dominieren.“ Keine alten Konflikte gibt es auch mit dem grünen Parteivorsitzenden Christian Schmidt und der zukünftigen Stadtverordnetenvorsteherin Elke Neuwohner. Schwieriger ist es da schon mit OB Spies und der grünen Spitzenkandidatin Nadine Bernshausen. Bis zum Kommunalwahlkampf hatten sie zwar wenig miteinander zu tun, weil Bernshausen vor allem in der Kreispolitik aktiv war. Sie ist aber die Ehefrau des grünen Ex-Bürgermeisters Franz Kahle, der ihren Wahlkampf mitorganisiert hat. Das macht die Situation wieder kompliziert. 

Trotzdem hofft die SPD auf einen Neustart. Im Übrigen, sagt Thorsten Büchner: „Nur Gekuschel muss ja auch nicht sein.“ 

Gesa Coordes

Mögliche Koalitionen

Mit der Kommunalwahl legten die Grünen mit 26,4 Prozent der Stimmen in Marburg kräftig zu und wurden stärkste Fraktion. Dagegen verloren sowohl SPD (23,9 Prozent) als auch CDU (21,7 Prozent). Die Linken verloren leicht (11,5 Prozent). Die erstmals angetretene Klimaliste holte auf Anhieb 6,5 Prozent. Dazu kamen FDP (4 Prozent), „Bürger für Marburg“ (3,3 Prozent), AfD (1,9 Prozent) und Piraten (0,8 Prozent). Um eine Koalition zu bilden, ist damit mindestens ein Dreier-Bündnis nötig. Diskutiert wird über: 

Grün-rot-grün: Ein Bündnis von Grünen, SPD und Klimaliste ist von den Inhalten her besonders naheliegend. Zusammen kämen sie auf 33 von 59 Sitzen. Die Klimaliste wird sowohl von den Grünen als auch von den Sozialdemokraten umworben und besteht vor allem aus jungen, politisch noch wenig erfahrenen Leuten.

Grün-rot-rot: Eine Koalition von Grünen, SPD und Linken ist ebenfalls möglich. Oberbürgermeister Thomas Spies gehörte einst zu den Sozialdemokraten, die das gescheiterte rot-rot-grüne Bündnis mit Andrea Ypsilanti auf Landesebene schmiedeten. Es gibt aber auch Vorbehalte sowohl bei der SPD als auch bei den Grünen, die sich im Wahlkampf der CDU annäherten. Mit den Linken gäbe es eine bequeme Mehrheit von 36 von 59 Sitzen.

Grün-schwarz-gelb: Auf ein Bündnis zwischen Grünen, CDU und FDP wäre es angesichts der Unterstützung aus dem konservativen Lager sehr wahrscheinlich hinausgelaufen, wenn Nadine Bernshausen die Oberbürgermeisterwahl gewonnen hätte. Grüne und Christdemokraten haben zwar größere inhaltliche Unterschiede, aber weniger Probleme auf der persönlichen Ebene. Da sich Thomas Spies (SPD) als OB halten konnte, ist die Ausgangslage aber wieder anders, weil es schwierig ist, als Koalition gegen den Amtsinhaber zu regieren. Zudem hätte ein grün-konservatives Bündnis nur eine Stimme Mehrheit. Denkbar wäre, noch die „Bürger für Marburg“ hinzuzunehmen. 

Wechselnde Mehrheiten: Möglich, aber von den Grünen nach eigenen Angaben derzeit nicht geplant. (gec)

Bild mit freundlicher Genehmigung von GEORG_KRONENBERG